Enttäuschung schafft Bewusstein
Die Corona-Krise führt zu vereinzelten Austritten aus der AG – Persönliche Reflexionen von Christine Rüter
Kurz nach dem ersten coronabedingten Lockdown im März 2020 erreichte uns, d.h. den Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland, die Nachricht eines Austritts. Die Begründung war kurz gesagt: Enttäuschung. „Oh je“, dachte ich mir damals, „was müssen wir ändern, damit dieses, nun ehemalige, und eventuelle andere Mitglieder nicht mehr enttäuscht sein müssen?“ Dann kam der nächste Austritt. Begründung: Enttäuschung. Und der nächste Austritt – wieder Enttäuschung. Interessant ist, dass die Gründe für die jeweiligen Enttäuschungen ganz unterschiedliche waren. Da gab es Enttäuschung darüber, dass Anthroposophen eine Nähe zu den Querdenkern zu haben scheinen; dann gab es die Enttäuschung darüber, dass die anthroposophische Gesellschaft sich nicht deutlich gegen das Impfen ausgesprochen hat, und die Enttäuschung darüber, dass die anthroposophische Gesellschaft nicht zum Ausdruck gebracht hat, wie man das Geschehen rund um Corona überhaupt sehen müsse; man solle doch deutlich Flagge zeigen. D.h. es wurde von uns eine eindeutige Meinung erwartet, aber gerne so, wie die jeweilige Meinung des entsprechenden Mitglieds es vorsah.
Als ich mir diese unterschiedlichen Enttäuschungsgründe vor Augen führte, fragte ich mich, ob es eigentlich an uns, dem Vorstand sei, in irgendeiner Richtung Meinungen zu vertreten? Keine Meinung wäre allen Mitgliedern genehm. Folgt man diesen, sind die anderen enttäuscht. Folgt man jenen, sind diese enttäuscht. An dieser Stelle meiner Überlegungen angelangt, fragte ich mich, was denn überhaupt meine Aufgabe als Vorstand der AGiD ist. Wofür steht die anthroposophische Gesellschaft? Verfolgt man die Diskussionen über die Anthroposophie und ihre Lebensfelder in den öffentlichen Medien, dann findet man ähnliche Vorwürfe wie von unseren Mitgliedern: die Anthroposphen seien zu esoterisch, zu rechtsradikal oder in ihrer eigenen Blase gefangen. Auch gutmeinende Berater empfehlen uns die Distanzierung von links, von rechts, aber raten trotzdem zu deutlichen Statements. Sagen diese völlig kontroversen Vorwürfe/Ratschläge eigentlich etwas über die Anthroposophen aus? Und wenn ja, was? Vielleicht ist es gerade eine durch die Anthroposophie hervorgerufene Qualität, die ermöglicht, dass viele Richtungen, die auch sonst in der Gesellschaft vertreten sind, in der anthroposophischen Gesellschaft vorkommen dürfen?
Geht man davon aus, dass alles auf der Welt eine Sinnhaftigkeit hat, – denn wenn es keinen Sinn hätte, wäre es nicht da, so führt es Victor Frankl in seinem Buch „Über den Sinn des Lebens“ aus –, dann müssen auch die polaren Meinungen über Anthroposophie in der Öffentlichkeit etwas zeigen, was stimmt. Wenn ich zurück in meine Jugend denke, dann war ich damals begeistert, dass ich Teil einer innovativen Bewegung sein durfte. Ich war Waldorfschülerin in Bremen. Ich wurde eingeschult, als unsere Schule noch in zwei Bremer Villen untergebracht war. In der 7. Klasse zogen wir in unsere neue Schule um. Dem sind enorme gemeinschaftliche Anstrengungen vorausgegangen. Jedes Elternpaar verpflichtete sich damals, ein ganzes Monatsgehalt für den Bau der Schule zu spenden. Kurz nach der Fertigstellung des Baues fand die damals sehr gut besuchte jährliche Eltern-Lehrer-Schüler-Tagung in Bremen statt. Ich war stolz, dass ich dabei sein durfte, um meine wunderbare neue Schule zu präsentieren. Regelmäßig war ich in der Christengemeinschaft, bereitete dort Jugendtagungen vor und nach, spielte Theater und hatte das Gefühl, ich könne helfen, an einer besseren Welt mitzugestalten. Und natürlich kannte ich auch einen Großteil der anthroposophischen Szene Bremens und des Umlands. Ich arbeitete an der Schülerzeitschrift unserer Schule mit, war bekannt mit vielen aktiven Waldorfschülern in Deutschland. Durch den Besuch der alle vier Jahre stattfindenden Waldorfschüler- und Ehemaligen-Tagungen waren viele meiner Freunde Waldorfschüler und Ehemalige aus der ganzen Welt. Bis heute trägt mich dieses Netzwerk.
Gibt es das noch? Meine Wahrnehmungen sind eher, dass die anthroposophische Szene zersplittert. Ich nehme wahr, dass es die Gruppen gibt, die sich philosophisch mit den anthroposophischen Inhalten beschäftigen, mit wenig Anspruch, die gewonnenen Einsichten ins Leben zu bringen, sie konkret umzusetzen. Ich sehe viele anthroposophische Einrichtungen, die nach einer Art anthroposophischen Rezeptur ihre Schule, ihren Betrieb, ihre heilpädagogische Einrichtung, ihr Therapeutikum, ihren Hof führen – was vermutlich auf die Dauer nicht tragfähig sein wird, wenn nicht der Anschluss an die Sinnhaftigkeit immer neu erarbeitet wird. Und ich nehme eine weit verbreitete Bequemlichkeit und Ängstlichkeit wahr, die verhindert, dass man sich für die eigenen Belange und die der eigenen Einrichtung mit ganzer Kraft einsetzen kann.
Die Generation meiner Eltern und Lehrer unternahm enorme Anstrengungen, weil sie durch die Kriegszeit erleben mussten, dass der einzelne Mensch in jener Zeit wenig galt. Ihnen wurde durch ihre Erlebnisse das Wohl und die Förderung des einzelnen Menschen, um es etwas pathetisch auszudrücken, heilig. Dieses Ideal ließ die eigenen Bequemlichkeiten, Vorteile und Unterschiedlichkeiten, die es natürlich auch damals gab, in den Hintergrund treten und machte es möglich, sich für eine gemeinsame Sache einzusetzen. Ich nehme wenig wahr, dass es gegenwärtig ein Interesse für einen Zusammenhalt gibt. Die Fähigkeit, persönliche Bedürfnisse wahrzunehmen und für sich Sorge zu tragen, ist gewachsen. Das konnte die Generation meiner Eltern und Lehrer viel weniger. Ist das der Weg, der heute ansteht? Brauchen wir für unsere Entwicklung die Vereinzelung und Zersplitterung, um so zu einer neuen Gemeinsamkeit finden zu können? Gibt es diese Gemeinsamkeit vielleicht schon und ich sehe sie nur nicht? Sieht die Öffentlichkeit vielleicht etwas, was wir selbst noch nicht wahrgenommen haben?
Nun, ich finde mich mit meinen Anliegen in keiner oder in allen der oben erwähnten Richtungen wieder. Ich bin Vorstandsmitglied der AGiD geworden, weil es mir wichtig ist, dass es eine Gesellschaft gibt, die sich für das Wohl des Menschseins einsetzt; für die Möglichkeit, dass sich jeder Mensch individuell entwickeln kann. Und wenn zu dieser Entwicklung gehört, dass man sich mit Esoterik beschäftigt, dann finde ich das in Ordnung. Ich finde es auch in Ordnung, wenn man für traditionelle Werte eintritt oder für/gegen Impfungen ist oder aber auch, wenn man sich mit seiner Meinung zurückhalten möchte.
Die Menschen sind unterschiedlich. Das dürfen sie. Dafür stehen wir doch! Warum soll das plötzlich nicht mehr möglich sein? Warum wird erwartet, dass eine ganze Gruppe oder gar die ganze Menschheit dieselbe Meinung vertritt, obwohl wir uns als anthroposophische Gesellschaft für das individuelle Menschsein einsetzen wollen? Eine Meinung ist der Ausdruck eines einzelnen Menschen. Eine Meinung sagt nichts über eine Wahrheit oder eine Faktenlage aus. Sie ist halt eine Meinung. Sie kann rechts, links, esoterisch, materialistisch und sogar unsachlich sein. Die Mischung aus vielen Meinungen macht unser Leben facettenreich und gibt jedem von uns die Möglichkeit, voneinander zu lernen, sich zu ergänzen und uns so als das „Netzwerk Menschheit“ zu erleben und zu entwickeln. Wie wunderbar, wenn es die Möglichkeit der freien Meinungsäußerung gibt! Aber was ist aus dieser geworden, die doch Ausdruck des freien, individuellen Menschen ist? Warum scheint die Vielfältigkeit weniger wertvoll als vor einem Jahr zu sein? Warum?
Was sagen uns die oben erwähnten Enttäuschungen? Enttäuscht sein heißt auch, dass man sich getäuscht hat, dass man anderes erwartet hat, als eingetreten ist. Das ist schmerzhaft, aber schafft Bewusstsein. Im besten Falle ein Bewusstsein dafür, dass man sich auf den Weg machen muss. Laufen wir also los!