Mitgefühl als schöpferische Kraft: Vom Erlebnis der Ohnmacht innerer Wandlung
Gedanken zur Begegnung mit dem Zeitgeist. Das Goetheanum | 11. September 2025 | Die Nachrichten zeigen eine Welt in Not. Dazu kommen die Herausforderungen und Schwellenmomente im eigenen Leben. Solches Erleben kann lähmen – oder eine innere Bewegung auslösen.

Die Nachrichten zeigen eine Welt in Not. Dazu kommen die Herausforderungen und Schwellenmomente im eigenen Leben. Solches Erleben kann lähmen – oder eine innere Bewegung auslösen. Wer das Leid nicht verdrängt, sondern bewusst an sich heranlässt, erlebt ein Mitgefühl, das tiefer reicht als eine flüchtige emotionale Regung. Es kann sich in eine Kraft verwandeln, die Denken, Empfinden und Handeln verbindet. Aus dieser Kraft kann der Wille entstehen, heilsam tätig zu werden – zunächst still im Inneren, dann sichtbar in der Welt. Gerade dort, wo wir uns ohnmächtig fühlen, liegt oft der Keim für ein neues Beginnen. Das Mitfühlen mit der Not anderer Menschen oder mit der Zerrissenheit der Welt kann zur Schwelle werden, an der sich ein inneres Tor öffnet: Aus Betroffenheit wächst eine neue Verantwortung. Nicht das Warten auf äußere Rettung, sondern das Hören auf die innere Stimme führt zu einem schöpferischen Impuls. Dieser Impuls kann als Gewissen erlebt werden – nicht als mahnender Blick zurück, sondern als vorausschauende Kraft, die Bilder einer möglichen Zukunft in uns bewegt.
Mitgefühl erweist sich damit nicht als Endpunkt, sondern als Ausgangspunkt: als Boden, auf dem Mut wächst, schöpferisch tätig zu werden. So entsteht ein neues Verhältnis zum eigenen Leben, zur Mitwelt und zu den geistigen Kräften, die uns begleiten – zum Zeitgeist Michael und zum Christuswesen. Es schafft Vertrauen, dass selbst kleinste Impulse, wenn sie aus innerer Wahrhaftigkeit geboren sind, eine größere Wirkung entfalten können.
Aus innerer Ohnmacht zum schöpferischen Impuls
Oft kündigt sich Neues in Phasen an, in denen jede Einflussmöglichkeit zu schwinden scheint. In dieser gefühlten Ohnmacht kann ein kleiner Funke aufleuchten – ein Impuls, entzündet durch das höhere Selbst. Daraus formt sich ein inneres Bild, motiviert von der Frage: Wie könnte die Zukunft aussehen, wenn ich selbst den ersten Schritt tue? Es ist kein Appell an äußere Retter, kein Abwarten, bis ‹jemand anderes› die Verantwortung übernimmt. Die innere Stimme sagt: Ich bin gemeint. Aus dieser Erkenntnis wächst Mut – Mut, in Bewegung zu kommen, eine Initiative zu ergreifen, frei und ohne Zwang, getragen von eigener Verantwortung. Mitgefühl markiert dabei nicht das Ziel, sondern den Aufbruch. Wer es pflegt, entwickelt ein Erkenntnisorgan, das nicht nur das Leid erfasst, sondern auch erahnt, wie Heilung ansetzen könnte.
Neues Gewissen
Die treibende Kraft ist das Gewissen – nicht als rückwärtsgewandter Richter über Vergangenes, sondern als zukunftsoffene Instanz.1 Dieses neue Gewissen entsteht aus einem bewussten Umgang mit Erinnerung und Zeit. Es kann zu einer Art karmischer Vorschau werden. Mögliche Folgen des eigenen Handelns treten innerlich vor Augen. Dieses Bild lässt sich im Herzen bewegen – und schließlich als Frage an die geistige Welt übergeben.
Daraus erwächst eine neue moralische Haltung. Sie öffnet den Blick für die Verbundenheit allen Lebens und wandelt Mitgefühl in schöpferischen Gestaltungswillen. In dieser Haltung wird eine Sphäre berührt, die dem Christus nahe ist: «Jedes Mal, wenn ein Gefühl des Mitleids oder der Mitfreude in der Seele entwickelt ist, so bildet das eine Anziehungskraft für den Christus-Impuls, und der Christus verbindet sich durch Mitleid und Liebe mit der Seele des Menschen. Mitleid und Liebe sind die Kräfte, aus denen der Christus sich seinen Ätherleib formt bis zum Ende der Erdenentwicklung.»2
Karma wird so nicht passiv ertragen, sondern aktiv gestaltet – im Sinn einer Liebe, die sich Mensch und Mitwelt zuwendet. Initiativen, die aus solcher moralischen Tiefe kommen, können vom Geist Michaels aufgenommen und verstärkt werden.
Der Weg der Rückschau
Damit dieser Weg fruchtbar wird, bedarf es regelmäßiger Übung. Eine zentrale Praxis ist die tägliche Rückschau – bewusst rückwärts gedacht.3 So lässt sich der reißende Strom der Zeit anhalten, den der ‹Zeitgeist› oft mit sich zieht. Diese Rückschau kann den Tageslauf umfassen, einzelne Ereignisse oder längere Lebensabschnitte. Sie schenkt innere Ruhe und einen neuen Blick auf Zusammenhänge. Indem auch die Momente ins Gedächtnis gerufen werden, in denen Mitgefühl empfunden oder versäumt wurde, öffnet sich ein Raum, dieses künftig bewusster zu gestalten.
Tagebuch als Werkzeug
Ein persönliches Tagebuch vertieft die Rückschau. Es ist kein Ort für ausschweifende Prosa, sondern eine Werkstatt für Gedanken, Skizzen, Fragen, Beobachtungen und innere Bilder. Franz Kafka brachte den Sinn dieses täglichen Schreibens prägnant auf den Punkt:
«Das Tagebuch von heute an festhalten! / Regelmäßig schreiben! / Sich nicht aufgeben! / Wenn keine Erlösung kommt, / so will ich jeden Augenblick / ihrer würdig sein.»[/note]Franz Kafka, Tagebuchnotiz vom 14. Oktober 1921.[/note]
Ein solches Tagebuch wird zur Quelle neuer Ideen – und zur Sammlung künftiger Initiativen, geboren aus echter innerer Anteilnahme.
Von der Erinnerung zur Initiative
Rückschau und Tagebucharbeit helfen, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen. Die wesentlichen Fragen lassen sich dann bewusst an die geistige Welt übergeben. Aus diesem Prozess formt sich ein inneres Bild, das zu einer Handlung reift. Ob gehandelt wird, bleibt ein freier Entscheid – niemand zwingt dazu. Doch wenn der Schritt getan wird, kann der Geist Michaels ihn begleiten und seine Wirkung vertiefen. Mitgefühl ist dabei wie fruchtbarer Boden: Er hält das Herz warm und den Blick klar – auch inmitten einer höchst widersprüchlichen Welt.
Michael – der wartende, schweigende Geist
«Michael drängt sich nicht auf. Er wartet schweigend auf eigene Initiativen, ohne vorgegebene Worte, nur der kraftvolle Blick auf das, was aus Freiheit geschieht. Michael ist eine Wesenheit, die eigentlich nichts offenbart, wenn man ihr nicht in emsiger geistiger Arbeit von der Erde aus etwas entgegenbringt.»4
Das Bündnis mit Michael entsteht nicht durch Reden, sondern durch bescheidenes, inspiriertes Handeln.
ZUM ARTIKEL
Fußnoten
- Rudolf Steiner, Von Jesus zu Christus. Vortrag vom 14. Oktober 1911.
- Rudolf Steiner, Drei Wege der Seele zu Christus. GA 143, Vortrag vom 8. Mai 1912.
- Hilfreiche Anregungen finden sich im Büchlein: Rudolf Steiner, Rückschau. Übungen zur Willensstärkung. Hrsg. von Martina Maria Sam, Rudolf-Steiner-Verlag, 2009.
- Rudolf Steiner, Vortrag vom 13.01.1924, GA 233a. «Am hellsten leuchtet er dort, wo eigenes Licht zu ihm getragen wird – und wo Mitgefühl in verantwortungsvolle Tat verwandelt wird. Dann verbindet er sich mit dem Christus.»
Thomas Stöckli
Dr. phil., Erziehungswissenschaftler, forschend tätig am Institut für Praxisforschung und in der Co-Leitung der Akademie für anthroposophische Pädagogik (Dornach). Beschäftigt sich seit 20 Jahren mit dem Thema «Lebenslernen». Siehe dazu seine Publikationen auf www.institut-praxisforschung.com