Die Geburt des Neuen
In der großen Welt toben Kriege und Konflikte. In unserer kleinen anthroposophischen Welt hoffen wir, dass wir durch die Anthroposophie verschont bleiben. Aber auch in dieser kleinen Welt geschehen Auseinandersetzungen. Manchmal frage ich mich, ob es Sinn macht, mich über die Geschehnisse in der großen und unserer kleinen Welt zu informieren. Stimmt irgendetwas von dem, was man in Zeitungen lesen, im Radio hören kann oder mir jemand erzählt? Woher nehme ich meine eigene Urteilsgrundlage und wie kann ich entscheiden, was ich mit dem Gehörten, Erzählten und Gelesenen in meinem Leben anfange? Was gehört zu mir und was nicht? Mir scheint, dass wir uns in einer Zeit der Extreme bewegen. In einer Zeit, die fast nur eine Meinungsbildung von Schwarz und Weiß zulässt. Das Abwägen der Zwischentöne und -farben ist nicht mehr en vogue. Nicht nur in der großen Gesellschaft finden sich diese Tendenzen. Immer wieder hoffte ich, dass die Zeiten, in denen wir nach dem „richtigen“ und dem „falschen“ Anthroposophen Ausschau halten, vorbei sind. Aber die Neigung, die Welt in Gut und Böse aufzuteilen, gab es schon immer und wird es wahrscheinlich auch noch eine Weile geben. Die Frage ist, ob dieser Blickwinkel das Ziel der Menschheitsentwicklung ist oder ob wir noch einen Weg zu gehen haben und wenn ja, wohin. Wenn man davon ausgeht, dass alles in der Welt einen Sinn hat (denn wenn etwas keinen Sinn hätte, warum sollte es dann existieren?), dann könnte man fragen, was der Sinn von Konflikten ist.
Seit etwa 30 Jahren studiere ich das Oberuferer Christgeburtsspiel bei uns auf dem Hof ein. Wir führen das Spiel in einem alten Schafstall auf. Die Bühnenbeleuchtungen sind, mangels Elektrizität, Kerzen, die auf zwei Tannenbäumen und in diversen Kerzenständern leuchten. Ein alter Kachelofen sorgt für Wärme. Wer als Erstes kommt, darf auf der Ofenbank sitzen. Später Kommende müssen sich warm anziehen. Wir führen das Spiel immer am 4. Advent und am Heiligen Abend auf. Vor allen Dingen die Heiligabend-Aufführung ist für viele Menschen ihre Einstimmung in die Weihnachtszeit. Das Einstudieren wurde mir noch nie langweilig. Jedes Jahr finde ich etwas, was mein Leben beeinflusst, befruchtet und verändert. Einige dieser kleinen Erkenntnisse möchte ich mit meinen Leserinnen und Lesern teilen und ihnen die Weihnachtsgeschichte etwas anders erzählen: Inmitten der Winterzeit möchte in der menschlichen Seele etwas Neues geboren werden. Dieses Neue hat noch keinen Geburtsort gefunden, lässt durch Vater und Mutter an die Tür eines Gasthofes klopfen. Der Wirt schaut sich die Eltern des Neuen an und sagt: „Tut mir leid, bei mir ist kein Platz. Bei mir ist schon alles voll mit alten Vorstellungen.“ Das Neue wird zum nächsten Wirt getragen und bittet auch hier um Einlass. Dieser antwortet: „Wer weiß, wo Du herkommst, Du bist nicht als tüchtig und reich bekannt, ich kann von Altbewährtem bestimmt mehr bekommen als von Dir.“ Der dritte Wirt hat ebenfalls keinen Platz im Haus, wohl aber im Stall, dort, wo die Tiere wohnen. Zwischen Ochs und Esel, dem Monden- und dem Sonnentier, also zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang, zwischen der Tag- und Nachtgleiche im Herbst und der Tag- und Nachtgleiche im Frühling, mitten im Winter, mitten in der Nacht, in der tiefsten Dunkelheit, wird das Neue geboren. Das Neue trägt noch keine prächtigen Kleider, kann keine Weisheiten von sich geben, kann nicht die eigenen Lebenserfahrungen zur Verfügung stellen. Es ist eben neu! Das Neue wird nicht durch die Kraft unserer alten Vorstellungen erkannt, es wird nicht sichtbar, wenn wir nach Macht und Glanz Ausschau halten. Es wird von den Hirten erkannt, die wissen, dass das Neue kommen wird. Sie wissen nicht, wann, aber sie sind sich sicher, dass es in ihrer Heimat, in ihnen geboren werden soll. Durch ihre vor dem Einschlafen gestellte Frage sind ihre Seelen offen für den Verkündigungsengel, der die Geburt des Neuen ankündigt und ihnen den Weg weist. Beim Neugeborenen angekommen, schenken die Hirten dasjenige, was sie sich in ihrem Leben erarbeitet haben. Die eigenen Begabungen und Fähigkeiten sind wohl immer die Grundlage für den nächsten Schritt, für das Neue im Leben.
Ich denke, dass dieser Vorgang in jeder menschlichen Seele immer wieder geschieht, sofern wir die uns gemäßen Fragen stellen, uns auf den Weg begeben, unsere alten Vorstellungen hinterfragen, den Mut aufbringen, den zarten Keim des Neuen zu achten und zu wertschätzen und jeden ersten und zweiten und dritten ungelenken Schritt auf der Grundlage unserer Vorerfahrungen auf uns nehmen, um das Neue in unseren Seelen willkommen heißen zu können. Ebenso sollte unser Blick auf unsere Mitmenschen gerichtet sein. Wir verhindern Entwicklung, wenn wir unsere Zeitgenossen mit unseren alten Vorstellungen und Urteilen betrachten. Jeder von uns ist für seine Entwicklung darauf angewiesen, dass sich ihm Hirtenherzen zuwenden, die das Neue in ihm erkennen und achten.
Die Anthroposophie wurde vor gut 100 Jahren durch Rudolf Steiner in die Welt gebracht. 100 Jahre sind für ein menschliches Leben viel, für einen Menschheitsimpuls wenig. Ein Menschheitsimpuls ist nicht plötzlich da. Viele Entwicklungsschritte werden gegangen, sozusagen von einer Katakombe, in der sich die ersten Christen versammelten, bis zur Kathedrale und von dort vielleicht in den Seelen-Tempel eines jeden Menschen. Etwas Neues innerhalb dieses großartigen Anthroposophie-Impulses wird auch jetzt geboren werden wollen. Vielleicht wollen uns das unsere Auseinandersetzungen und Konflikte lehren. Ich denke, nur durch das Neue in unser aller Seelen wird dieser Impuls weiterentwickelt werden können. Lauschen wir also auf das Neue in unseren Seelen!