Geistige Eigenaktivität
Stefanie Benke im Gespräch mit Wolf-Ulrich Klünker

Stefanie Benke: 100 Jahre nach dem Tod Rudolf Steiners hast du dich in einem Aufsatz mit der Frage befasst, wo Rudolf Steiner heute zu finden ist. Was ist deine Auffassung dazu?
Wolf-Ulrich Klünker: Ich denke, Rudolf Steiner ist da zu finden, wo es für mich selbst mit der Anthroposophie weitergeht, insbesondere wenn ich inhaltlich unterwegs bin, wo er selbst nicht war. Ich denke, dass man geistige Entwicklung so verstehen kann: Ich knüpfe an Rudolf Steiner an als eine Art geistige Selbstaktivierung, und daraus entsteht etwas, was bei ihm nicht zu finden ist. Das waren und sind bei mir beispielsweise bestimmte Bereiche der IchEntwicklung, der Beziehung von Ich und Geistselbst und therapeutische Dimensionen des Substanzverständnisses.
Außerdem finde ich Rudolf Steiner auch da, wo bei mir persönlich der Berührungspunkt vongeistiger und existenzieller Schwelle liegt. Ich glaube, dass geistige Entwicklung dort entsteht. Bei der existenziellen Schwelle spielen alle lebensmäßigen Grenzen eine Rolle, von Krankheit über Beziehungssituationen bis hin zu Stimmungen. Im Verhältnis zu dieser Schwelle ist die geistige Schwelle da, wo ich geistig nicht weiterkomme, wo die Erkenntnisgrenze für mich so wichtig wird, dass ich mich an der Grenze aufhalten kann. Dort entsteht ein ungeheures Willenselement.
Durch die erste Schwelle kommt ein Empfindungs- und Gefühlselement herein, etwas rein Menschliches. Durch die geistige Schwelle kommt ein rein geistiges Element herein. Beides kann willentlich verbunden werden durch eine Verschiebung der Erkenntnisgrenze im Denken. Denn Anthroposophie basiert auf
dem Denken und auf der Denkentwicklung. Im Grunde koinzidieren beide Schwellen in meinem Schicksal mit dem Denken. Das lässt sich biografisch und zwischenmenschlich verfolgen. Ich kann von der eigenen Erfahrung an der Berührung dieser beiden Schwellen her verstehen, wo Rudolf Steiner sich in seiner Lebenszeit bewegt hat.
SB: Wie könnte ein nächster Schritt, der über das gewöhnliche Bewusstsein hinausführt, zu dieser existenziellen und geistigen Schwelle hinführen?
WUK: Zwischen diesen beiden Schwellen gibt es einen Parallelprozess. Sie sind nicht identisch, sie berühren sich auch erst einmal gar nicht, sondern dazwischen entsteht eine unendliche Spannung. Diese Spannung ist heute die Ich-Entwicklung. Wenn ich nur auf die geistige Schwelle rekurriere, dann besteht die Gefahr, dass ich, verkürzt gesagt, die Menschlichkeit verliere. Wenn ich nur die existenzielle Schwelle erlebe, dann verliere ich die geistige Seite, die Entwicklungschance und letztlich die Ich-Entwicklung. Wie verknüpfe ich beides in der Parallelführung so, dass die Spannung zwischen den beiden Schwellendimensionen zur eigenen IchEntwicklungskraft wird?
SB: Ist das ein Inkarnationsprozess? Geht es heute nicht mehr darum, dass wir Bewusstsein von einer geistigen Welt erlangen, sondern vor allem darum, dass das Geistige ins Leben kommt? Wie geschieht das?
WUK: Durch mich an meiner zweifachen Grenze wird die Geisteswissenschaft Mensch, kommt sie auf die Erde. Dies ist Bewegung in eine geistige Wirklichkeit, die nicht illusionär ist. Denn auch die geistige Wirklichkeit will auf der Erde ankommen, und sie kommt durch meine Bewegung in der angedeuteten Spannung auf der Erde an. Ich würde mit einer gewissen Konsequenz sagen: Bei Rudolf Steiner ging es noch darum, dass die Menschen sich von ihren inkarnativen Gegebenheiten befreiten. Die Menschen waren noch typusmäßig etwas. Es ging darum, davon frei zu werden, um in eine geistige Bewegung hereinzukommen. Heute sind wir nichts mehr. Im Grunde genommen ist die Unsicherheit und Verlorenheit viel größer, als man denkt. Es ist nötig, dass ich mich überhaupt erst inkarniere. Der Inkarnationsvorgang ist nicht mit der Geburt abgeschlossen. Wenn sich meine Inkarnationsbewegung jeden Tag weiter vollzieht, dann ist die Schwelle zum Vorgeburtlichen offen. Wenn ich auf diese Weise das Geistige auf die Erde hole, wird die Erde geistfähig, d. h. die Schwelle zum Nachtodlichen ist offen. Das Vorgeburtliche und Nachtodliche sind schon da, das muss man nur bemerken. So führt die Biografie im Denken und Erleben schon über beide Schwellen hinaus. Das ist eine andere Situation als vor 100 Jahren.
SB: Wie ist das Vorgeburtliche und das Nachtodliche in der jetzigen Situation schon enthalten?
WUK: Dadurch, dass ich durch die existenzielle Schwelle permanent an meinen Inkarnationsvoraussetzungen weiter arbeite, wie man es vorher nur vorgeburtlich getan hat. Das ist möglich, weil heute das Erdengeschehen geistig geworden ist. Das Nachtodliche ist im Leben, weil ich durch die geistige Schwelle, an der ich mich bewege, permanent meine nachtodlichen Existenzbedingungen schon jetzt vorbereite. Im ersten Vortrag des Heilpädagogischen Kurses formuliert Steiner: Was ich jetzt hier an der Welt erlebe, auch wenn es überhaupt nicht spektakulär ist, wird nachtodlich mein Innensein. Und man müsste ergänzen: Was jetzt mein Innensein, also mein Selbstgefühl, mein Selbstbezug ist, wird nachtodlich Umgebung. Es war 1924, zur Zeit des Heilpädagogischen Kurses, noch so: Ich mache jetzt die Welterfahrung, und diese Welterfahrung wird nachtodlich mein Selbstgefühl. Ich mache hier Selbst nachtodlich Weltgefühl, Peripherie. Heute kann man schon im Leben spüren, dass die Umgebungserfahrungen, die ich jetzt mache, bereits in der irdischen Existenz mein Selbstgefühl bestimmen. Und wo ich jetzt im Selbstgefühl bin, das wird schon hier im Leben Peripherie – nicht erst nach dem Tod.
SB: Wenn meine Umgebung mein Selbstgefühl bestimmt, welche Rolle spielt da der Begriff der Atmosphäre?
WUK: Atmosphäre, Stimmung, Milieu bedeuten, ich werde innerlich durch das, womit ich mich beschäftige, zu etwas. Ein Motiv in Steiners Schriften ist, dass das Ich durch das, womit es umgeht, entsteht. Und auf der anderen Seite kann man sagen, ist ein Umgebungsproblem, zum Beispiel Einsamkeit, im Grunde ein Problem meines Selbstbezugs. Wenn ich keinen Bezug zur Peripherie ausbilde, ist das Ausdruck eines Problems des Selbstgefühls: Ausdruck von fehlendem Interesse und Erleben in der Umgebung.
SB: Du hast die Not von Einsamkeit und Verunsicherung in der heutigen Zeit angesprochen und therapeutische Ansätze angedeutet. Wie kann Anthroposophie therapeutisch wirksam werden?
WUK: Eine große therapeutische Wirkung liegt darin: Durch Anthroposophie kann deutlich werden, dass heute alles in die Abstraktion und in den Tod gehen muss. Es müssen die alten Beziehungsformen absterben, damit ich zu einer wirklichen, zwischenmenschlichen Ich-Beziehung komme. Es gibt beispielsweise keine gegebene Beziehungsform mehr zwischen Eltern und Kindern, sondern es muss auch in der Eltern-Kind-Beziehung eine Beziehung von Ich zu Ich entstehen. Auch Zweierbeziehungen und Ehe verlassen die Beziehungsform und gehen in die konkrete zwischenmenschliche Ich-Beziehung über, in die eigentliche Beziehungssubstanz.
Wir befinden uns in einer riesigen Abstraktion. Der Naturbegriff hat sich verabstrahiert, der Menschenbegriff hat sich verabstrahiert, die größte Abstraktion findet formal in der Digitalisierung statt – ein Bild der notwendigen Abstraktion in der Ich-Entwicklung. Ich fühle die Todesdimension, um hinter dieser Abstraktion das neue Leben zu bemerken. Das ist für mich entscheidend an der Anthroposophie, dass sie für solche Entwicklungen sensibilisiert.
Wir müssen zu einer Empfindung hinter dem Denken kommen. Die alte Empfindung ist tot, sentimental und in Wahrheit abstrahiert. Ich kann heute nicht mehr mein Gefühl in irgendeiner Form sanieren. Ich kann nicht gefühlsfähig werden, wenn ich nicht denkfähig werde. Und denkfähig werden heißt heute nicht, irgendwelche geistigen Inhalte zu reflektieren, sondern dass ich die Spannung bei mir selber aushalte zwischen der existenziellen und der geistigen Schwelle. Die Therapie kann heute nur darin bestehen, dass ich die Dinge so lasse, wie sie sind und nichts daran verändern will. Es gibt keine Problemlösung mehr. Ich kann zu dem, was abstirbt, allerdings eine Art Parallelprozess mit neuem Leben eröffnen, und das wird das alte Leben allmählich therapieren, erträglicher machen und auch überwinden. Ich kann Rudolf Steiner nicht durch den Bezug auf Rudolf Steiner sanieren oder für mich zugänglich machen. Ich brauche eine eigene geistige Bewegung, und dadurch kann ich allmählich auch Rudolf Steiner und die Anthroposophie hereinholen.
SB: Ist das die Aufgabe der Anthroposophie heute?
WUK: Ich knüpfe mit aller Konsequenz an Rudolf Steiner an, aber ich imitiere ihn nicht, sondern ich brauche den Punkt, wo in der Spannung zwischen dem, wo ich existenziell bin – schon diese existenzielle Situation macht völlig unmöglich, dass ich irgendwelche Steiner-Imitationen vollziehe – und dem, wo ich geistig bin, etwas Neues entsteht. «Geistig» bedeutet nicht im Sinne von einem abstrakten geistigen Interesse, sondern: Was ist das, was mich momentan wirklich interessiert? Dieses Verhältnis zwischen geistigem Interesse und persönlich-existenzieller Situation wird dazu führen, dass das Alte seelisch, geistig und sozial überwunden wird. Das führt in den Raum der Empfindung hinter dem Denken.
SB: Dann wäre eine zukünftige Anthroposophie ja völlig individualisiert? WUK: Ja. Steiner sagte in einer seiner späten Äußerungen, in der sogenannten Priester-Apokalypse: Es gibt so viele Apokalypsen, wie es Menschen gibt, die die Apokalypse gleichsam als neue Apokalyptiker nachvollziehen. Und genauso gibt es so viele Anthroposophien, wie das entsteht, was individuell aus der Anthroposophie realisiert wird. Wir haben insofern apokalyptische Verhältnisse.
SB: Was wäre dann die Aufgabe der anthroposophischen Gesellschaft? Und wo steht die anthroposophische Gesellschaft heute in Wirklichkeit?
WUK: Die eine Seite hängt mit der Bewahrung und Entwicklung des editorischen und lebensbezogenen Werks Rudolf Steiners zusammen. Das kann aber nicht funktionieren, wenn nicht auch eine gegenwärtige Geisteswissenschaft entwickelt wird. Sonst können wir das Werk nicht bewahren, sondern nur in gewisser Weisen konservieren. Dann wird es immer mehr sterben. Auch das Werk Rudolf Steiners muss sterben, es muss in die Abstraktion. Nur das Abstrakte kann überleben. Jeder Vortrag, auch wenn er lebendig erscheint, ist Konserve von damals. Nur die schriftlichen Werke sind in gewisser Hinsicht überzeitlich, übersituativ. Aber auch sie werden alt und älter und damit unwirklicher von Tag zu Tag. Das kann mit neuem Leben erfüllt werden, wenn der Geist Rudolf Steiners von der eigenen geistigen Entwicklung her lebendig weiterentwickelt wird. Dadurch leben Rudolf Steiner und die Anthroposophie weiter, ansonsten werden sie fixiert auf damals. Es kann keine Form- oder Inhaltsfixierung der Anthroposophie geben; das wäre eine Art Mumifizierung, auch des Menschen Rudolf Steiner in seiner weiteren Entwicklung. Wo etwas nicht bewusst weiterentwickelt wird, besteht heute die Gefahr von instinktiven, also problematischen Kraftwirkungen aus der Vergangenheit; das gilt übrigens auch in politisch-sozialen Bereichen.
SB: Abstraktion ist ja heute oft negativ konnotiert. Abstraktes wirkt schattenhaft und unlebendig. Was meinst du mit Abstraktion?
WUK: Erstmal ist die Abstraktion ein Prozess, der stattfindet. Es gehört dazu, die Abstraktion, also das Sterbende, zu bemerken. Vom Heilpädagogischen {sic!{ Kurs
kann man lernen: Das Denken wirkt als leibbildende und schicksalsbildende Kraft. Im Denken, in der Abstraktionsfähigkeit liegt diese Kraft, nicht in der Emotion. Jedes Gefühl, das aus dem Denken kommt, jede Empfindung hinter dem Denken, ist existenzialfähig, leibfähig und kraftfähig. Anthroposophie wäre, dieses Grundprinzip zu vertreten. Dann haben wir eine völlig neue Spiritualität, die nichts mehr zu tun hat mit überlieferter Esoterik oder Religiosität. Und die Anthroposophie wird in ihren Grundvoraussetzungen eingelöst, nämlich dass sie sich immer an der Grenze zur Wissenschaft und zum Denken entfalten muss. Ich brauche eine Schulung des Denkens, um zu seiner Kraftseite zu gelangen. Ich brauche heute ein klares Bewusstsein des Absterbens und damit die Erfahrung, dass sich das vollzieht, was Steiner in dem Vortrag «Wie finde ich den Christus?» genannt hat «die Auferstehung aus dem Geist». Die menschenkundliche Grundaussage ist: Wir müssen, ähnlich, wie es in der alten Psychologie des Aristoteles der Fall war, die grundlegende lebenskonstituierende Kraft des Denkens wiederfinden. Das kann die Anthroposophie.
SB: Du meinst mit Abstraktion so etwas wie ein Nadelöhr, einen lebendigen Punkt, wo es in die Zukunft geht?
WUK: Die Erinnerungskultur, die heute so viel gefordert wird, trägt nicht mehr. Ich werde nur erinnerungsfähig, wenn ich geistig tätig bin. Auch Demenz ist letztlich kein Erinnerungsproblem, sondern ein Willensproblem, ein Problem geistiger Eigenaktivität. Wir befinden uns in einer gewissen Weise in einer zivilisatorischen Demenz. Ich brauche eine zeitgemäße geistige Selbstaktivierung, um überhaupt wieder erinnerungsfähig zu werden. Denn Erinnerung heißt: Zusammenhänge bilden, Zusammenhänge erkennen, und nicht, etwas abzuspiegeln. Nicht das Vergangene trägt mich jetzt geistig, sondern ich muss geistig freischwebend von oben nach unten tätig werden, um überhaupt die Grundlagen in der Vergangenheit wieder greifen zu können. Das gilt geschichtlich, biografisch und auch karmisch. Wir können durch Anthroposophie Begriffszusammenhänge denkbar machen, die in diesen neuen Erfahrungsraum hineinführen. Dann wird die Abstraktion überwunden.
Bei Hegel gibt es eine Stelle in der Enzyklopädie, wo er sagt, alle Einzelgefühle, Empfindungen und Wahrnehmungen laufen im Selbstgefühl zusammen. Dieses Selbstgefühl ist aber nicht dasselbe wie das, was man heute landläufig unter Selbstgefühl oder Selbstwertgefühl versteht, sondern hier merke ich: Das, womit ich in der Welt verbunden bin, das bin ich selbst in meinem Erleben. Und dieses Erleben ergibt sich nur aus dem, wenn ich mit der Welt verbunden bin. Das brauchen wir heute, um überhaupt eine tragfähige Grundlage zu finden für die menschliche Existenz. Das eigentliche Seelenleben und das eigentliche Unbewusste, nach dem vor 100 Jahren auch in der Psychoanalyse gesucht wurde, ist das Denken in seiner leibschaffenden Kraft, das vom Vorgeburtlichen her den Leib gebildet hat. Wir sind heute in diesem eigentlichen Unbewussten, in dem kraftvollen und auch erlebnisintensiven vorgeburtlichen Denken prinzipiell sensibel. Wir müssen es nur entdecken.
SB: Was ist denn das Selbstgefühl? Wechselt es zwischen Innenerleben und Eigenerleben in der Außenwelt?
WUK: Es ist letztlich die Oszillation von zentralem und peripherem Ich. Das Ich steckt nicht nur in mir selbst drin, sondern ist auch das, womit ich verbunden bin, d. h. das Selbstgefühl bildet sich aus dem, wie die Welt von mir erlebt wird. Das ist einerseits völlig individuell und auf der anderen Seite nicht willkürlich. Das Selbstgefühl bildet sich, wo ich die Welt so erlebe, wie sie kein anderer erleben kann. Das gehört aber zu der Welt, das ist nichts Egomanisches. Die Wirklichkeit wird sich immer mehr – das ist auch die neue Apokalypse, die schon längst wirksam ist – aus diesen individuellen Weltaspekten, die nur von den Menschen erlebt werden können, zusammensetzen. Alles andere hat keine Realität mehr. Das Eintreten in diesen Bereich ist auch eine Erhellung und Vertiefung des Denkens in Richtung Wille und Gefühl. Aber es muss eben durch den Tod und die Überwindung des Gegebenen hindurch.
SB: Und wenn man da durchgegangen ist, ist man dann in dem Bereich jenseits der Schwelle? Sind da nicht Engel, Christus, Michael, Verstorbene und andere geistige Wesen? Welche Rolle spielen die denn bei dem ganzen Prozess?
WUK: Die sind da auch, aber anders, als man zunächst denkt. Es geht aus diesem Durchgang ein neues Erleben hervor. Da ist es natürlich wichtig, dass man entsprechende Begriffe ausbilden kann, auch solche wie Engel, Michael und Christus. Aber man darf das jetzt nicht als Namensgebung sehen oder als Definition, sondern diese Begriffe werden zu einer Art Sensibilität für Erlebnisformen, die dann möglich werden. Diese Begriffe sind nicht die Erklärung für etwas, sondern sie sind die Erlebnisvoraussetzung für das, was dann in die Wahrnehmung tritt.
SB: Wird meine Wahrnehmung durch die Präsenz von Engeln anders?
WUK: Meine Wahrnehmung muss sich immer mehr auf das stützen, was ich zu denken fähig bin, und wenn ich eben den Engel denken kann, dann kann er sich auch in einer nicht-illusionären Weise im Erleben zeigen. Genauso wie Paul Klee für seine Zeit in der Lage war, den Engel mit wenigen Strichen zu zeichnen: Da konnte sich der Engel in diesen Zeichnungen zeigen.
SB: Ist das ein Zusammenhang von Form und Inhalt?
WUK: Wenn ich beides individualisiere und die Form durch die eigene Begriffsbildung mitbringe. Die Anthroposophie ist eigentlich ein riesiger Begriffszusammenhang, der aber von mir individuell erfasst wird und dadurch allgemeine Erlebnisvoraussetzungen bildet. Da die Schwelle nicht mehr nur Grenze ist, sondern in gewisser Weise übergänglich, sind diese Erlebnisse sowohl irdisch als auch überirdisch – nennen wir das mal so. Wir sind eigentlich in den irdischen Verhältnissen längst geistig geworden. Es gelten auf der Erde und im Leben geistige Gesetze, es wird nur kaum bemerkt. Dazu gehört zum Beispiel, dass es in dem alten irdischen
Dasein einen mittleren Weg gab: Wenn ich nicht das Positive verfolgt habe, dann konnte ich irgendwie unqualifiziert in einem Mittleren bleiben. Wenn ich etwas gelassen habe, habe ich es halt gelassen. Heute ist es oft so: Wenn ich nicht mein Dasein, meine Erlebnisse positiv qualifiziere, dann werden sie zur Negativkraft. Die Situationen, die ich nicht ergreife, werden kippen. Der elektrische Strom ist da, und ob er Licht bewirkt oder einen Kurzschluss verursacht, das muss ich selber qualifizieren. Das bedeutet zum Beispiel im Beziehungsbereich: Eine Beziehung, die ich laufen lasse, die ich nicht ständig positiv qualifiziere, kann ungeheure antipathische Kräfte entwickeln. Es gelten geistige Gesetze, und das war früher nur bei den Engeln so. Deswegen ist ja der Engel, der einmal einen Fehler gemacht hat, gefallen. Wenn ich Auto fahre und ich fahre gegen die Wand, kann ich ja nicht sagen, die Kraft darf nicht wirken. Die wird wirken. So ist es heute im Irdischen für den Menschen, so war es immer für den Engel. Indem ich das heute bei mir bemerke, kann ich zum Beispiel auch etwas vom Engel verstehen. Man könnte aus vielen früheren Aussagen zum Engel heute etwas über die irdische Existenz und die eigene lernen, wenn man sie in dieser Weise begrifflich betrachtet. Das ist ein ganz wichtiges Prinzip, dass eine Wirklichkeit gegeben ist, die darauf wartet, dass sie von uns positiv qualifiziert wird.
SB: Könnte man sagen, die wichtigste Tugend ist heute Geistesgegenwärtigkeit?
WUK: Genau. Geistesgegenwart, Präsenz im Lebensaugenblick und sich selber zuständig und verantwortlich zu fühlen. Ich muss die Spannung zwischen meiner existenziellen und geistigen Lebenssituation weiter mitnehmen. Aus ihr gibt es keine Erlösung oder Befreiung, sondern es werden immer wieder existenzielle Lebens- und Erlebenssituationen entstehen. Und gleichzeitig bin ich in einem geistigen Prozess und man kann sagen, die Wirklichkeit, die Gegenwart entsteht, indem beide Seiten sich durchdringen. Sonst lebe ich gar nicht in der Gegenwart, sondern nur in der Vergangenheit. Die Gegenwart ist eigentlich nicht mehr etwas, das zwischen Vergangenheit und Zukunft liegt, sondern sie kann nur dadurch entstehen, dass ich aus dieser Spannung heraus Zukunft permanent gestalten muss. Sonst haben wir eigentlich nur die bösen Geister der Vergangenheit, die eine Gegenwart vorgaukeln.
SB: Wir haben heute ziemlich viele Probleme, bei denen man das Gefühl hat, dass
da negative Kräfte wirken: Krieg, Umweltprobleme, mangelndes Vertrauen, soziale Probleme. Womit hängen die Zeitkrisen zusammen?
WUK: Ich habe den Eindruck, die Welt und auch die Natur warten darauf, durch mich positiv qualifiziert zu werden. Es kann nur das funktionieren, wo ich auch bin. Ich kann das Funktionieren nicht von anderen erwarten. Natur kann nur gerettet werden, wenn sie sich weiterentwickelt. Es geht nicht darum, Natur zu bewahren, sondern Natur zu entwickeln. Die Natur, die nicht durch mich sich entwickelt, indem ich etwas in der Natur vollziehe, was übernatürlich ist und wodurch neue Natur entsteht, die wird absterben.
SB: Wie vollzieht man so etwas?
WUK: Ich kann keinen Tierschutz betreiben, wenn ich keine wirkliche Beziehung zu einem Tier habe. Ich kann keinen Naturschutz betreiben, wenn ich nicht Gartenerfahrung habe oder mich nicht um ein Stück Wald oder so kümmere. Das ist eine Erfahrungs- und Verbindungsfrage. Ich kann auch keine Menschen retten, wenn ich nicht intensive Beziehungen zu Menschen habe. Es kann in allen Gebieten nur über die individuelle Erfahrung gehen. Das moralische Postulat hilft nicht.
SB: Findet das Heilende heute in der Begegnung statt?
WUK: In der Begegnung mit dem, wofür ich mich interessiere und womit ich auch tatsächlich umgehe. Dass so vieles problematisch wird, hängt damit zusammen, dass zu wenig Interesse, zu wenig Verbindung, zu wenig Beziehung da ist. Man müsste für das Menschenverständnis den Begriff der Intention neu beleben und fassen. Aus einer Welt des Gegebenen muss immer mehr eine Welt der konkreten sachbezogenen Intention werden, sonst löst sich das Gegebene auf.
SB: Wenn eine Intention da ist, gibt es dann auch eine Resonanz und eine Entwicklungsmöglichkeit?
WUK: Es ist ein Prinzip, dass da, wo eine kleine Ichkraft lebt, große Wirkungen entstehen können, die nicht vorhersehbar sind. Wo ich wirklich anwesend, verbunden bin, da entstehen Konstellationen und Entwicklungen, die man nicht hätte prognostizieren können. Wenn ich nicht anwesend bin, dann gehen eben auch entsprechend starke Kräfte ins Negative.
SB: Wie kann die Anthroposophie in den gegenwärtigen Krisen für die Welt wichtig werden?
WUK: Indem Begriffszusammenhänge gebildet werden, die bisher nicht bewusst sind. Es geht um die existenzielle und geistige Schwelle des Ich und darum, dass die Schwellensituation immer mehr offen ist zum Vorgeburtlichen und zum Nachtodlichen. Diese Dinge können nur aus einer gegenwärtigen Geisteswissenschaft benannt werden und durch das Benennen können sich Zusammenhänge entsprechend zeigen. Die Aufgabe der Anthroposophie heute ist es zu zeigen, dass man so etwas wie eine Zusammenhangsbrille aufsetzen kann. Und wenn ich die nicht aufsetze, dann sehe ich sie eben nicht.
SB: Ich kann also so Zusammenhänge erblicken, die das Geistige mitumfassen. Könnte man auch sagen, Begriffe sind so etwas wie Organe?
WUK: Ja, Organe, eine Art Selbstsensibilisierung und auf jeden Fall lichtwirksam. Es wird etwas deutlich, was vorher nicht deutlich war, das setzt aber meine Intention voraus. Verlebendigen bedeutet, dass ich das an mir selbst vollziehe, wodurch ich die lebendigen Kräfte in der Welt erkennen kann. Wo ich nur in der Wahrnehmung und im Gefühl bleibe, lande ich in der Natur und im Leben im Vergangenen. Wo ich geistig selber eigentätig bin, kann ich an die geistigen ätherischen, lebendigen Kräfte anknüpfen. Der große Architekt des 19. Jahrhunderts, Karl-Friedrich Schinkel,
formulierte: Der Mensch ist nur da lebendig, wo er Neues schafft
SB: Sind die geistigen Organe, die man im Schulungsweg entwickeln soll, nicht etwas anderes als Begriffe?
WUK: Die Begriffe sind aber Voraussetzungen dafür, dass geistige Organe und geistige Sensibilität sich entwickeln können. Sonst geraten wir in ein überliefertes, historisches Geistiges hinein, jedenfalls in ein problematisches Geistiges. Das individuelle Geistige muss aus dem selbst bemerkten Zusammenhang kommen.
Ich bemerke: Ich selbst bin zuständig.
SB: Du bist jetzt gerade 70 Jahre alt geworden. Was ist für dich eine wichtige Forschungsfrage, an der du gerade dran bist?
WUK: Das Wichtigste ist für mich, die Ichentwicklung als geistige Entwicklung immer genauer zu verstehen und begriffliche Zusammenhänge herzustellen, die das Ich als geistiges Wesen hier auf der Erde erlebbar machen. Da ist der heilpädagogische Kurs ein Anknüpfungspunkt. Aber wir können ihn nur verstehen, wenn wir in der gleichen Tendenz ein gegenwärtiges Geistesleben haben. Ich kann nicht allein vom Heilpädagogischen Kurs oder anderen Werken Steiners aus ein gegenwärtiges Geistesleben praktizieren. Ich brauche meinen eigenen Heilpädagogischen Kurs, um den Rudolf Steiners verstehen zu können. Es geht darum, einen Begriff des Menschen zu entwickeln, der Eigenständigkeit auch gegenüber dem Werk Steiners ermöglichen kann. Das würde ich als meine gegenwärtige Fragestellung bezeichnen.
SB: Wir blicken auch auf 30 Jahre deiner Tätigkeit in der Turmalin-Stiftung und 30 Jahre Delos-Forschungsstelle in ihrer jetzigen Form zurück. Welche Projekte habt ihr bearbeitet?
WUK: Was im Moment im Vordergrund steht, ist die Frage nach einer Weiterentwicklung des Mistelgedankens. Hier geht es darum, die Wirksamkeit im Lebendigen neu zu verstehen und von daher einen Begriff der Mistelwirkung zu entwickeln. Das haben wir über die Verbindung von Form und Sensibilisierung vollzogen, «Mistelform und sensible Prozesse», ein spezielles Verfahren. Da haben wir mit der Firma Sonett zusammengearbeitet, und vielleicht muss das Ganze auch noch weitergehen.
Ein weiteres Thema ist eine Erneuerung des Therapiebegriffs. Und was ich für am existenziell notwendigsten halte, ist eine Revision des Wissenschaftsbegriffs. Es geht darum, dass wir zu einer Wissenschaft kommen, die nicht mehr exklusiv sich vollzieht, sondern aus dem Denken der einzelnen Menschen kommt, gleichsam inklusive. Das heißt, das Leben muss sich verwissenschaftlichen und die Lebenshaltung muss wissenschaftlich werden.
Es geht weniger darum, die Anthroposophie diskursfähig zu machen oder ans Akademische in irgendeiner Form anzupassen, sondern darum, in der Mündigkeit und in der Denkfähigkeit des Einzelnen an der Lebenschwelle so etwas wie eine wissenschaftliche Eigentragfähigkeit zu entwickeln. Wenn das nicht passiert, werden die alten, religiösen und sozialen Kräfte zerstörerisch wirken. Wir haben ja überall Konflikte und Kriege, die letztlich aus dem alten Geistbezug stammen: aus dem alten Christlichen, dem alten Islamischen, dem alten Israelischen, dem alten Sozialistischen usw.
SB: Was ist das Problem an der Wissenschaft, wie sie heute ist?
WUK: Die Anthroposophie braucht die Grenze der Wissenschaft. Aber Wissenschaft ist eben Lebenshaltung und nicht Sondergebiet von Fachleuten, die dann in Begriffen, reden, die kein Mensch versteht. Wissenschaft stellt nicht fest, was Wirklichkeit ist. Wissenschaft spiegelt nicht Wirklichkeit, sondern Wissenschaft muss Wirklichkeit schaffen. Es geht nicht nur um Substanzanalyse, sondern auch um Substanzsynthese. Wirklichkeit ist nur da, wo Neues entsteht und Neues geschaffen wird. Tätigkeiten wie Imagination, Inspiration und Intuition gehören mit in das Wissenschaftsgeschehen hinein. Denn sie sind selbstreinigend und selbstentwickelnd. Sie sind nicht so gefährlich, wie sie zunächst wirken. Wenn ich wirklich dranbleibe und merke, wo ich bin, kann ich jede Position jederzeit korrigieren. Es ist nichts so korrekturfähig wie eine eigene Intention, an der ich wirklich dranbleibe.
SB: Was bedeutet Substanz für dich?
WUK: Substanz hat ja etwas mit Wirklichkeit und Leben zu tun und das halte ich für die Zentralfrage des 21. Jahrhunderts. Die Grundfrage des 20. Jahrhunderts war die Frage nach dem Unbewussten. Wir haben heute die Frage nach Wirklichkeit und Substanz. Diese sind nicht einfach gegeben und können nicht nur aus der Vergangenheit erklärt werden. Substanz – materielle Substanz, geistige Substanz, seelische Substanz, zwischenmenschliche Substanz – kann nur da tragfähig werden, wo ich sie selber bilde. Das müsste in die Wissenschaft herein: Was passiert mit dem Gegebenen, wenn ich selber eingreife? Und nicht: Was ist das Gegebene, gerade wenn ich nicht eingreife? Es braucht meinen Einsatz, meine Idee und meine Zusammenhangsbildung. Die Empfindung hinter dem Denken ist kraftschlüssig zum Ätherischen hin, die alte Empfindung nicht. Erstere wirkt permanent ins Ätherische und positiv auf Lebensprozesse, kann sich also mit Lebensprozessen verbinden. Sonst haben wir immer die Entgegensetzung von unbewussten ätherischen Lebensprozessen und bewussten astralen Erlebensprozessen. Im Sinne dieser neuen, schwellenoffenen Lebenssituation zeigt sich ein Erleben, das lebensfähig ist, und ein Leben, dass erlebensfähig, also bewusstseinsfähig wird. Das Lebendige wird immer mehr erlebnisfähig, und das Erlebte, die Empfindung, kann immer mehr lebendig werden. Das ist meine Formel für das 21. Jahrhundert.
Prof. Dr. Dr. Wolf-Ulrich Klünker, geb. 1955, ist Begründer der DELOS- Forschungsstelle für Psychologie und Leiter der Turmalin-Stiftung (Menschenkunde und Heilpädagogik). An der Alanus-Hochschule in Alfter hat er die Professur für Erkenntnisgrundlagen der Anthroposophie inne. Forschung und Publikationen auf den Gebieten Psychologie, therapeutische Menschenkunde und Geistesgeschichte. Weitere Informationen: www.delos-forschungsstelle.de.
Stefanie Benke, geb. 1975, wuchs in Ratingen auf. Sie studierte Germanistik, Philosophie und Journalistik in Leipzig, promovierte in Germanistik über das Thema «Leben und Form um 1900» und schloss die Waldorflehrerausbildung in Berlin ab. Sie unterrichtete an verschiedenen Waldorfschulen. Seit 2011 ist sie Klassen-, Religions- und Deutschlehrerin an der inklusiven Karl-Schubert-Schule Leipzig. Seit 2018 gibt sie Kurse am Leipziger Waldorflehrerseminar (Campus Mitte-Ost).