Im Gespräch mit dem neuen Leitungsteam des Rudolf-Steiner-Archivs
Seit April 2025 hat das Rudolf-Steiner-Archiv in Dornach ein neues Leitungsteam. Die Slawistin und Waldorfpädagogin Angelika Schmitt sowie der Ökonom und Philosoph Philip Kovce traten die Nachfolge von David Marc Hoffmann an, der Ende März in den Ruhestand gegangen ist. Seit 1961 wird im Rudolf-Steiner-Archiv die Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe herausgegeben. Bis Ende 2025 soll die große Edition mit über 400 Bänden abgeschlossen sein. Die 2022 begonnene digitale Edition aller Notizbücher und Notizzettel Steiners wird über 2025 hinaus fortgesetzt werden. Mit dem Abschluss der Gesamtausgabe werden sich die Arbeitsschwerpunkte im Archiv verändern. Unter Aufrechterhaltung des öffentlichen Zugangs ist unter anderem geplant: die Erschließung und schrittweise Digitalisierung der umfangreichen Materialien, die Einrichtung einer permanenten Rudolf-Steiner-Ausstellung sowie der Ausbau des Archivs als Forschungsstätte zum Leben und Werk Steiners.

Aktuell präsentiert das Rudolf-Steiner-Archiv anlässlich des 100. Todestages Rudolf Steiners die Ausstellung „Autor, Redakteur, Herausgeber ‒ Rudolf Steiner und sein schriftliches Werk“ sowie die monatliche Veranstaltungsreihe „Rudolf Steiner im Gespräch“, die Angelika Schmitt und Philip Kovce moderieren. Matthias Niedermann sprach mit Angelika Schmitt und Philip Kovce.
Matthias Niedermann:Angelika, Du bist Jongleurin und hast zu Andrej Belyj promoviert. Was hat das miteinander zu tun und warum sind diese Erfahrungen aus Deiner Sicht relevant für Deine Tätigkeit im Rudolf-Steiner-Archiv?
Angelika Schmitt: Die Zirkuserfahrung und insbesondere meine Ausbildung an der Staatlichen Zirkusschule in Moskau haben mich tatsächlich sehr gut auf das wissenschaftliche Arbeiten vorbereitet. Ich habe dort gelernt, dass sich das scheinbar Unmögliche verwirklichen lässt, wenn du Tag für Tag dranbleibst und dich in kleinen Schritten vorwärtsbewegst, egal welche Hindernisse sich dir in den Weg stellen. Also Disziplin, Fleiß und Unbeirrbarkeit als Schlüsselkompetenzen; aber auch die Fähigkeit, loszulassen, wenn die Zeit für einen nächsten Schritt noch nicht reif ist, die Dinge ruhen zu lassen im Vertrauen darauf, dass sie in verwandelter Form wiederkehren und sich zu einem späteren Zeitpunkt fügen werden. Dann habe ich auch das Strukturieren und Komponieren von komplexen Zusammenhängen geübt, denn ich wollte ja keinen klassischen Zirkus machen, sondern das Jonglieren mit der Eurythmie verbinden. Also jonglierend den Raum ergreifen und Musik und Sprache artistisch zum Ausdruck bringen. Erkenntnis und Wissenschaft als ko-kreative Komposition von Begriffen und Ideen sowie deren dynamisches Zusammenwirken habe ich auch in der Auseinandersetzung mit Andrej Belyj trainiert, denn er hat dieses Prinzip als die „Methodologie der Selbstbewusstseinsseele“ bezeichnet und es seinem kulturphilosophischen Hauptwerk zugrunde gelegt. So hoffe ich, dass ich auf die vielfältigen Aufgaben, die mich als Co-Leiterin des Rudolf-Steiner-Archivs erwarten, gut vorbereitet bin.
MN:Philip, Friedrich Schillers Ästhetische Briefe, Michael Bockemühls Ringen um das Verständnis künstlerischer Formen und Götz Werners öffentlicher Einsatz für die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens spielen eine große Rolle in Deiner bisherigen publizistischen Arbeit. Was sagt das über Dich aus und wie wurde durch diese Persönlichkeiten Dein Zugang zu Steiners geistigem Erbe geprägt?
Philip Kovce: Fangen wir von vorne an. In der Oberstufe lasen wir im Deutschunterricht Friedrich Schillers Ästhetische Briefe. Mein Schlüsselerlebnis bei der Lektüre war: Während ich diese Briefe lese und denkend nachvollziehe, vollziehe ich bereits jene ästhetische Erziehung, von der Schiller berichtet. Ich habe Schillers Ästhetische Briefe nicht als Theorie einer ästhetischen Erziehung gelesen, sondern als Praxis einer ästhetischen Erziehung erfahren, ja vollzogen. Als Erziehung zur Freiheit. Von dort aus entwickelte sich dann auch mein Interesse am Freiheitsphilosophen Rudolf Steiner. An dem Kunstwissenschaftler Michael Bockemühl hat mich dann zu Studienzeiten fasziniert, wie er das Wahrnehmen unternehmerisch begriffen hat. Er fand immer wieder Mittel und Wege, zu demonstrieren, wie die eigene Wahrnehmung Mitschöpferin der Wirklichkeit ist. Und an dem Unternehmer Götz Werner hat mich fasziniert, wie er Unternehmertum künstlerisch verstand. Werner hat nicht bloß ein Grundeinkommen für alle propagiert, sondern einen ganz neuen Zugang zu Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit angestrebt. Von dort aus entwickelte sich mein Interesse am Sozialreformer Rudolf Steiner. Was das über mich aussagt? Vielleicht unter anderem dies: dass ich Schüler von Lehrern gewesen bin, die mich als Schüler darauf hingewiesen haben, Lehrer meiner selbst, Selbsterzieher sein zu können.
MN:Steiners schriftliches Werk mit allen Notizbüchern, Manuskripten und Briefen gleicht einer großen geistigen Werkstatt. Welche konkreten Aufgaben hat das Rudolf-Steiner-Archiv heute? Habt Ihr konkrete Beispiele für die Tätigkeit des Archivs?
PK: Das Rudolf-Steiner-Archiv hat sich in der Vergangenheit hauptsächlich um die Herausgabe von Rudolf Steiners Werk gekümmert. Diesem berechtigten Ziel war alles andere untergeordnet und wir stehen 2025 tatsächlich kurz vor dem Abschluss der Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe. Jetzt gilt es, sich mehr um die Erhaltung und Erschließung der Archivalien zu kümmern. So haben wir etwa bis heute keinen einheitlichen Katalog und keine Datenbank, um die Archivalien aufzufinden. Damit das Archiv künftig für Forschungszwecke besser genutzt werden kann, ist eine solche Datenbank unerlässlich.
AS: Und was die Erhaltung betrifft: Bisher wurden die Archivalien vor allem für Editionszwecke ausgebeutet. Man hat sie mit Tesafilm zusammengeklebt, in säurehaltige Mappen gelegt, gelocht, beschriftet, mit Büroklammern aus Metall zusammengeheftet. Das alles bedeutet, dass handgeschriebene Briefe oder Manuskripte Steiners in einigen Jahrzehnten nicht mehr ausstellbar sein werden, weil Klebstoff, Säure, Rost und andere Stoffe das Papier zerfressen. Je weiter wir uns von Steiners Lebzeit entfernen, desto kostbarer werden aber seine Handschriften, deren auratische Wirkung nicht zu unterschätzen ist. Das alles in Ordnung zu bringen, ist sehr aufwendig, zumal wir rund 1,3 Regalkilometer mit Archivalien besitzen.
MN:Was hat Euch beim Beginn Eurer Tätigkeit im Archiv am meisten überrascht?
AS: Mich hat der Umfang des Bestands sehr beeindruckt. Von außen sieht man nicht, dass der Keller, in dem die Archivalien lagern, weit über die Grundfläche des Hauses Duldeck hinausreicht. Zudem haben wir noch ein größeres Außenlager, wo künstlerische Werke und Wandtafelzeichnungen aufbewahrt werden. Negativ überrascht hat mich, dass aus den ersten beiden Schaffensjahrzehnten Steiners kaum Manuskripte überliefert sind. Historisch-kritische Ausgaben, die die Genese des Frühwerks von verschiedenen handschriftlichen Varianten bis hin zu Druckvorlagen dokumentieren, kann es daher nicht geben. Dafür können wir aber Steiners Gedankenwerkstatt in den zahlreichen Notizbüchern bestaunen, deren Edition aufgrund der schieren Menge digital erfolgt. Hier sehe ich ein großes Potenzial für zukünftige ko-kreative Forschung, da Steiner seine Gedanken dort sehr konzentriert, sozusagen in Keimform verdichtet, zu Papier gebracht hat. Und vor Kurzem gab es eine für mich überaus freudige Überraschung: Wir haben nämlich in einem bisher nicht geöffneten, unbeschrifteten Paket die Meditations-Alben von Assja Turgenjewa, Andrej Belyjs erster Frau, gefunden. In der Belyj-Forschung sind wir bisher davon ausgegangen, dass Assja sie vernichtet hat. Das ist also ein durchaus sensationeller Fund, und die Zeichnungen selbst sind von bezaubernder Schönheit!
PK: Vielleicht nicht überrascht, aber doch beeindruckt hat mich die Arbeit im „Hinterland“ der Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe mit Notizen, Stenogrammen, Manuskripten und Druckfahnen. Man lernt dabei schnell: Vor allem der Weg von einem frei gehaltenen, einmaligen Vortrag Steiners bis zu dessen tausendfach gedruckter Fassung in der Gesamtausgabe ist weit. Aber auch viele seiner schriftlichen Werke hat Steiner über verschiedene Auflagen hinweg immer wieder grundlegend überarbeitet. Die Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe scheint mir in dieser Hinsicht Fluch und Segen zugleich: Segen, insofern sie die Lebensleistung Steiners umfassend dokumentiert; Fluch, insofern diese Edition mit ihren über 400 schönen, edlen Bänden leicht vergessen lässt, wie vorläufig Steiners Werk größtenteils gewesen und geblieben ist, ja wie sehr es für Steiner selbst im Fluss, in Entwicklung gewesen ist.
MN:Worin seht Ihr eine Euch persönlich herausfordernde Zukunftsaufgabe innerhalb des Archivs?
AS: Als promovierte Anthroposophie-Forscherin sehe ich es als wichtige Zukunftsaufgabe an, Anthroposophie-Forschung auf einem Niveau zu ermöglichen, das den wissenschaftlichen Ansprüchen ihres Begründers ebenso gerecht wird wie den wissenschaftlichen Anforderungen unserer Zeit. Ohne sich auf die Standards heutiger Wissenschaft im guten Sinne einzulassen ‒ ich denke da etwa an Gewissenhaftigkeit, Nüchternheit, differenzierte Urteilsfähigkeit, an die Fähigkeit zur Selbstkritik sowie an Dialog- und Entwicklungsbereitschaft ‒, wird die Anthroposophie die lang ersehnte Anerkennung in der Welt nicht erlangen. Die braucht es aber, wenn sie wirklich zu einer breiten gesellschaftstransformierenden Kraft werden will. Solche Räume des vorurteilslosen wissenschaftlichen Austauschs zu ermöglichen, sehe ich als eine Zukunftsaufgabe des Archivs an, der ich mich in meiner Funktion als Archivleiterin gerne widmen möchte.
PK: Ich würde sagen, das Archiv ist ein guter Ort, um das Spannungsverhältnis zwischen materiellem Nachlass und geistigem Erbe grundsätzlich zu bedenken. Als Nachlassverwalter stehen wir ja eigentlich auf verlorenem Posten: Wir versuchen, Dinge zu erhalten, die auf kurz oder lang dem irdischen Verfall preisgegeben sind. Dass Archivalien oft in Kellern lagern, ist nicht nur eine Tatsache, sondern auch ein Sinnbild: Archivalien liegen in der Unterwelt. Und warum liegen sie dort? Warum werden sie dort aufbewahrt? Weil sie Zeugen eines geistigen Erbes, gleichsam Boten „höherer Welten“ sind, mit denen man ins Gespräch kommen kann. Dieses Gespräch allen Interessierten zu ermöglichen, ist Sinn und Zweck des Archivs. Ich freue mich auf diese Übung der Selbstlosigkeit: anderen zu ermöglichen, im Rudolf-Steiner-Archiv mit Rudolf Steiner im Gespräch zu sein.
MN: Vielen Dank für das Gespräch und alles Gute für die neue Aufgabe!
Angelika Schmitt, 1976 geboren, Slawistin und Waldorfpädagogin. Dissertation über die Kulturphilosophie des russischen Symbolisten und Anthroposophen Andrej Belyj. Lehrte u. a. an der Universität Trier, der Alanus-Hochschule und der Widarschule in Bochum. War wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Waldorfpädagogik, Inklusion und Interkulturalität der Alanus-Hochschule, Standort Mannheim.
Philip Kovce, 1986 geboren, Ökonom und Philosoph. Forscht am Philosophicum Basel. Lehrte u. a. an der Universität Witten/Herdecke und an der Universität der Künste Berlin. Moderiert die Gesprächsreihe „UM Politics Talks“ im Basler Kaffeehaus Unternehmen Mitte. Schreibt für Presse und Rundfunk sowie Bücher. Zuletzt erschienen seine Aphorismen „Wenn alles gesagt ist, beginnt das Gespräch“ (2023).