Reinkarnation und Karma in Geschichte und Gegenwart
Erschienen Weihnachten 2025 Zeitschrift STIL, 47. Jahrgang, Heft 4
Karma erleben
Die Thematik von Reinkarnation und Karma berührt jeden Menschen in seinem tiefsten Wesen. Sie trifft sogleich ins Herz der eigenen Existenz. Unser persönliches Leben, die familiäre Situation, der Freundeskreis, das berufliche Umfeld oder die Lebensweise, der soziale, religiöse, kulturelle Kontext, die geistige Orientierung sowie die gesellschaftlichen und politischen Umstände des Landes und des Weltteiles, in dem wir leben, sind ein lebendiger Ausdruck davon.
Der Gedanke, die Überzeugung oder auch der Glaube, dass es Reinkarnation und Karma gibt, hat sich allerdings erst seit den 1960er Jahren des 20. Jahrhunderts immer mehr ausgebreitet, unabhängig von anthroposophischen Erkenntnisansätzen. Ian Stevenson, ein amerikanischer Psychiater und Forscher,[1] der an der University von Virginia lehrt, hat seit den 1960er Jahren weltweit zahlreiche Fälle von Reinkarnationserinnerungen dokumentiert und viele Bücher mit Fallbeispielen publiziert. Inzwischen gehen laut Untersuchungen 20–30% [2]der Bevölkerung im deutschsprachigen Raum davon aus, dass es Reinkarnation und Karma gibt, die Zahl nimmt stetig zu. In Büchern, Filmen, in der Werbung und sogar in Redewendungen, wie bei einem Missgeschick, von «schlechtem Karma» zu sprechen, scheint fast so, als sei es bereits Alltagswissen geworden. Als Kind war es für mich und meine beiden Geschwister eine nicht hinterfragte Realität, dass wir nicht das erste Mal auf der Welt sind. Meine Eltern haben über dieses Thema, soweit mir das bewusst ist, nicht gesprochen. Eine für mich einprägsame Erinnerung war der Besuch einer Burg in Spanien. Damals war ich um die fünf oder sechs Jahre alt. Der Blick aus dem Fenster der Burgruine auf das Meer hat mich tief ergriffen. Noch heute kann ich das Bild von damals wieder hervorrufen. Solche Eindrücke gab es später auch an anderen Orten der Welt. Ich konnte dort etwas Besonderes in der Landschaft erleben, in der Atmosphäre wahrnehmen oder an den Bauten empfinden, was mich etwas anging, mich unmittelbar betroffen hat. Nun ist die Frage, welche Bedeutung wir solchen Erlebnissen beimessen und wie wir mit ihnen umgehen.
Ähnlich betroffen kann man von Begegnungen mit Menschen sein. Es kann der Eindruck auftreten, den oder die kenne ich schon immer. Oder man kann starke Antipathien empfinden, die aus den Erfahrungen, die man mit dem betreffenden Menschen bisher gemacht hat, nicht zu erklären sind. An anderen Menschen geht man jahrelang vorüber, ja muss sich geradezu bemühen, sie überhaupt wahrzunehmen. Und dann treten sie plötzlich in das eigene Leben ein und werden überaus wichtig. Von manchen Menschen träumt man, von anderen nicht.
Noch während meines Studiums habe ich mich für ein «Begleitstudium Anthroposophie» am Friedrich von Hardenberg-Institut für Kulturwissenschaften in Heidelberg entschieden. Dafür musste man ein Motivationsschreiben einreichen. Damals hatte ich drei Fragen: Warum ist die Welt so wie sie jetzt ist? Wie ist sie so geworden, wie sie mir jetzt erscheint? Was ist der Mensch? Dabei war mir klar, dass es für mein jetziges Dasein Voraussetzungen gibt, die mich diese Frage haben stellen lassen. Ich hatte diese Fragen, weil ich bemerkte, dass ich mit meinem Leben an etwas anknüpfen möchte, und dass ich, um dazu in der Lage zu sein, erst einmal verstehen muss, was überhaupt vorliegt.
Geht man mit solchen Fragen um, blickt man bewusster auf sein Leben. In dieser Zeit ist mir ein Gedankengang aus Die Geheimwissenschaft im Umriss[3] wichtig geworden. Dort empfiehlt Rudolf Steiner, man solle sich einmal hypothetisch vorstellen, dass man das, was auf einen im Leben zukommt, was man als Erfahrungen macht, sich selbst so gestaltet hat, damit man daran die Kräfte entwickelt, die man in diesem Leben entfalten will. Man könnte auch sagen, mein höheres Ich kommt mir in den Lebensumständen, die ich vorfinde, entgegen, so dass ich mich durch sie entwickeln kann.
Mich hat dieser Gedanke vom ersten Moment an begeistert und zugleich getroffen. Wenn man mit ihm konkret lebt, ändert sich die gesamte Lebenshaltung und Lebenseinstellung. Einschränkend möchte ich allerdings sagen, dass dieser von Steiner als hypothetisch bezeichnete Gedanke als eine Denkanregung zu verstehen ist, die sich ein Ich als Denkaufgabe vornimmt. Der Gedanke ist keine absolute Aussage, die auf alle Erfahrungen des Lebens zu beziehen ist, und kann nicht als Erklärung oder gar Rechtfertigung von Lebensereignissen dienen. Er ist eine Anregung, die jeder nur für sich selbst ergreifen und erproben kann. Meine Erfahrung im Umgang mit diesem Gedanken war, dass ich, wenn ich mich sonst möglicherweise innerlich verletzt abgewendet hätte und mich als Opfer empfunden oder mich durch bestimmte Reaktionen meiner Umgebung in Gefühle der Passivität und Fremdheit hätte drängen lassen, durch den Gedanken, dass ich mir hiermit eine Aufgabe gestellt habe, eine Identifikation mit der gegebenen Lebenssituation herstellen konnte. Wenn es möglich ist, mich mit dem zu identifizieren, was auf mich zukommt, so kann ich an den entsprechenden Stellen, wenn das geboten ist, statt mich zurückzuziehen, einen Raum öffnen und auf die oder den Menschen zugehen und damit möglicherweise eine ganz neue Entwicklung anstoßen.
Was wir im Umgang mit eigenen biographischen Erlebnissen erfahren, hat weite Dimensionen. Die Frage nach Reinkarnation und Karma zeigt sich in vielen Schichten. Sie setzt im Persönlichen an, betrifft aber sogleich den Umkreis, in dem der Einzelne lebt. Daraus ergeben sich weitere Bezüge, indem wir auf die innere Orientierung blicken, die ein Mensch hat, oder seine Interessen überhaupt mit einbeziehen. Das gilt ebenso für jede kulturelle, soziale oder religiöse Orientierung. Zudem hat jeder einen Anteil an den gesellschaftlichen und politischen Geschehnissen in dem Land, in dem er lebt, und ist als Europäer oder auf anderen Kontinenten der Welt Beheimateter Teil einer Weltgemeinschaft, mit der er die Zeitgenossenschaft teilt.
Zum Verständnis und Begriff von Reinkarnation und Karma
Es gibt bis heute keine einheitliche Sicht auf das Thema Reinkarnation und Karma. Und es gibt auch keine systematische Darstellung, die alle Ansätze sachlich vertritt.[4] Das Wort Karma, stammt aus dem Sanskrit und bedeutet wörtlich Tat, Handlung, Wirkung. Es wird aus der Verb-Wurzel ‹kr› und dem Suffix ‹-ma› als Andeutung eines Handlungsergebnisses gebildet. Im Abendland war das Wort in der Orientalistik gebräuchlich und wurde durch die Theosophin Helena Petrowna Blavatsky populär. Dem Wort Reinkarnation von lateinisch re-incarnatio Wiederfleischwerdung oder Wiederverkörperung liegt die Idee zugrunde, dass die menschliche Seele oder der Geist sich nach dem Tod erneut in einem anderen Leib verkörpern können. Auf die Seele bezogen wird das als Metempsychose bezeichnet.
Rudolf Steiner hat die Begriffe Reinkarnation und Karma in dem grundlegenden Kapitel «Wiederverkörperung des Geistes und Schicksal» in seinem Werk Theosophie[5] näher bestimmt: «Der Leib unterliegt dem Gesetz der Vererbung; die Seele unterliegt dem selbst geschaffenen Schicksal. Man nennt dieses vom Menschen geschaffene Schicksal mit einem alten Ausdrucke Karma. Und der Geist steht unter dem Gesetze der Wiederverkörperung, der wiederholten Erdenleben.»[6]
Wir werden uns den zentralen Grundgedanken aus der Theosophie am Ende des Essays noch zuwenden. Rudolf Steiner hat damit erstmals eine differenzierte Menschenkunde vorgelegt, die es möglich macht, dass Verhältnis von Leib, Seele und Geist erkennend zu durchdringen.
Reinkarnationsverständnis in Ost und West
Das Verständnis wer oder was sich reinkarniert, ist in den verschiedenen religiösen und philosophischen Traditionen sehr unterschiedlich. Dabei geht es um Fragen wie die folgenden: Hat die Seele etwas in sich, was über den Tod des Leibes hinaus Bestand hat und mehrere Leben überdauern kann? Hat die Seele Anteil am Geist? Ist der Geist individuell oder allgemein? In welchem Verhältnis stehen Seele und Geist zueinander?
Ein klares Bild des Verhältnisses von Leib, Seele und Geist und ihren Verhältnissen untereinander, auch im Hinblick auf die Frage von Vergänglichkeit und Ewigkeit, ist für das Verständnis der oben geschilderten Fragen unabdingbar. Wie das Wort Re-Inkarnation schon sagt, geht es um eine erneute Inkarnation, also eine Verkörperung in einem neuen Leib. Woraus und woher dieser Leib gebildet wird, was die Kontinuität zwischen den Verkörperungen bildet und wie sich das Verhältnis und die Funktionen, die Seele und Geist dabei übernehmen, gestalten, bleibt eine Frage, die zu beantworten ist.
Hinduismus
Das frühste dokumentierte Zeugnis von Reinkarnation in Form von Seelenwanderung findet sich 700 v. Chr. in den Upanishaden, einer Sammlung philosophischer Schriften des Hinduismus. Dort heißt es in einer eindrücklich bildhaften Darstellung: «Wie eine Raupe, die das Ende eines Blattes erreicht hat und einen anderen Aufstieg beschreiten will, sich zusammenzieht, so zieht sich auf ebendiese gleiche Weise dieser Atman zusammen, wenn er diesen Körper verlassen und das Nichtwissen aufgegeben hat und einen anderen Aufstieg beschreiten will […] und wie er handelt und wie er wandelt, so wird er wiedergeboren.»[7] Die Vorstellung von der Seelenwanderung haben alle Hindureligionen aufgenommen. Dazu gehören die Lehren vom Karma als einem ewigen Kausalitätsprinzip, von Atman, dem unsterblichen Personenkern, der je nach der Strömung des Hinduismus unterschiedlich verstanden und teilweise nicht als individuelle Seele zu sehen ist. Der Mensch ist in das Rad der Wiedergeburten eingespannt, dem er nur entrinnen kann, wenn er sich von dem aufgehäuften Karma befreit.
Buddhismus
Der überlieferte Buddhismus geht von einer Wiederverkörperung ohne Seelenwanderung aus. Es gibt keinen alle Verkörperungen überdauernden Wesenskern. Die Persönlichkeit ist dem Vergehen und Entstehen unterworfen.
Das Individuum hat daher kein über mehrere Inkarnationen ausgespanntes Selbst. Krankheit, Alter und Tod zeigen dem Menschen seine Vergänglichkeit. Während seines Lebens ist der Mensch vom «Durst nach Dasein» getrieben. Dieser Durst nach Dasein bewirkt, dass der Mensch sich in das materielle und seelische Leben verstrickt und ist daher die Ursache der Wiedergeburt. Ziel ist es, aus dem Zwang der Wiedergeburten befreit zu werden, so dass der Durst nach Dasein überwunden wird. Im achtgliedrigen Pfad lehrte Buddha den Weg dazu.
Die unterschiedlichen Ausprägungen des Buddhismus führen in verschiedener Weise zur Befreiung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten ins Nirwana. In den östlichen und asiatischen Religionen wird die Wiederverkörperung, nicht nur als Mensch, sondern auch als Pflanze, Tier, Dämon oder Gott je nach Karma für möglich erachtet.
Indigene Völker
In den indigenen Völkern finden sich südlich der Sahara Reinkarnationsvorstellungen als Ahnenreiheninkarnationen. Ahnen können, so die religiösen Vorstellungen der Indigenen, auch mehrfach in den Kindern wiedergeboren werden. Dabei wird von einem unvergänglichen, nicht an den Körper gebundenen Wesenskern des Menschen ausgegangen, der geistig ist und der von den Ahnen auf neu geborene Kinder übergehen kann. Nach dem Tod geht der Mensch in das Reich der Ahnen, das Totenreich oder auch in die Unterwelt ein. Das Zusammenleben der Lebenden mit den Verstorbenen und den Ahnen ist ein reales und selbstverständliches. Man erlebt ihre Anwesenheit und ehrt sie.
Antike
Einer alten Überlieferung zufolge soll Pherekydes von Syros (584/83–499/98) die Vorstellung der Seelenwanderung in die griechische Geisteswelt eingeführt haben.[8] Er war der Lehrer von Pythagoras (ca. 570–480 v. Chr.), der als der eigentliche Hauptvertreter der Lehre von der Seelenwanderung galt. Pythagoras sprach dabei aus eigener Erfahrung, wie eine Aussage von Empedokles (ca. 483–423 v. Chr.) bezeugt: «Wenn er seine Geisteskraft anspannte, überblickte er mühelos bis in Einzelheiten seine zehn oder zwanzig Menschenleben.»[9]
Der griechische Philosoph Platon (428/27–348/47 v. Chr.) fasst in seiner Anschauung der Seelenwanderung nahezu alle vorhergehenden Anschauungen, die im Mythos und in der Philosophie der Vorsokratiker vorkamen, zusammen. Die Seele ist für ihn ein rein geistiges Wesen, eine Mittlerin zwischen der Welt der Ideen und der Körperwelt. Sie ist älter als der Leib und existiert schon vor der Geburt. So heißt es beispielsweise im Phaidros: «Vollkommen und befiedert schwebt die Seele in den höchsten Regionen und waltet durch die ganze Welt; die entfiederte aber treibt sich herum, bis sie auf ein Starres trifft, worin sie wohnhaft wird, einen irdischen Leib annehmend.»[10]
Während des Lebens liegt es an der Seele, in welche Richtung sie sich wendet. Bleibt sie allein dem Leib und der Sinneswelt verhaftet, verstrickt sie sich in die starre, feste Materie. Wird aber die Vernunft zur Herrscherin über die Triebe, dann befiedert sich die Seele, erhält gleichsam Flügel, gelangt ins Reich der Ideen und wird mit der Zeit gottähnlich. Um das zu erreichen, braucht sie mehrere Inkarnationen. Der Philosoph, als Liebhaber der Weisheit, der sich im Reich der Ideen denkend bewegt, ist auf diesem Wege bereits weit fortgeschritten.
Die Idee der Seelenwanderung ist bei Platon mit der Präexistenz verbunden. Für ihn ist die Erkenntnis ein Erinnern an das Leben in der Welt der Ideen vor der Geburt. Was wir hier sehen und benennen können, ist Frucht der Erinnerung an die geistigen Urbilder unserer vorirdischen Existenz. So heißt es in dem Dialog Menon: «Sie sagen, die Seele des Menschen sei unsterblich und abwechselnd scheide sie ab, was man dann Sterben nennt, und lebe dann wieder auf, zugrunde aber gehe sie niemals. Darum müsse man ein möglichst gottgefälliges Leben führen […] Und weil die Seele unsterblich und oft wiedererstanden ist und, was hier auf Erden und was im Hades ist, kurz alle Dinge geschaut hat, gibt es nichts, was ihr unbekannt wäre.»[11]
Die Seele wird von Platon individuell gedacht und hat die Aufgabe, das Körperliche, das zu ihrem individuellen Sein beiträgt, abzustreifen und sich mit dem Geist zu befiedern, der die Seele vom Körperlichen befreit und sie an das große Eine sich annähern lässt, um zuletzt zum Ursprung zurückzukehren. Der Geist wird hingegen noch als etwas Allgemeines, nicht Individuelles gedacht. Die gefallene, unbefiederte Seele kann sogar zeitweise in einem TierLeib wiederkommen.
Origenes
Erste Spuren der Idee der Wiederverkörperung eines individuell gedachten Geistes des Menschen finden sich bei dem christlichen Kirchenvater, Bibelkommentator, Philosophen und Platoniker Origenes (185–235 n. Chr.) Sichtbar wird hier, dass die Idee, dass ein individueller Geist sich wiederverkörpert, erst seit dem Tod und der Auferstehung Christi denkbar geworden ist. Daher unterscheidet sie sich auch fundamental von der alten Seelenwanderungsidee Platons und seiner Vorgänger. Origenes schreibt in De principi,[12] dass «es nicht ein anderer Körper ist, den wir jetzt ‹in Niedrigkeit, Vergänglichkeit und Schwäche› besitzen, und dann ein anderer, den wir in ‹Unvergänglichkeit, Kraft und Herrlichkeit› haben werden, sondern dass eben dieser Körper die Schwächen ablegen wird, die er jetzt hat, zur Herrlichkeit umgewandelt wird, und so zum ‹geistigen Körper› wird.»[13]
Wir können hier sehen, wie das Entweder-Oder von Ideenwelt versus Leib des platonischen Dualismus zugunsten einer Umwandlung des Leibes hin zu einem geisterfüllten Körper überwunden wird. Der geisterfüllte Körper hat Teil am Auferstehungsleib Christi, denn durch den Tod auf Golgatha und die Auferstehung wurde der Leib Christi vergeistigt und damit zu einer immerwährenden geistigen Form und Substanz, an der jeder Mensch teilhaben kann, der den Prozess der Vergeistigung tätig in sich hervorbringt.
Mittelalter
Aufgrund unterschiedlicher Interpretationen von Aristoteles grundlegendem Werk De Anima (Über die Seele) wurde in der mittelalterlichen Philosophie über die Frage des Verhältnisses von Leib und Seele und dann vor allem über das Verhältnis von Seele und Geist nachgedacht. Dabei war einer der wesentlichen Streitpunkte, ob der menschliche Geist nur seelenhaft sei oder ob die Seele am Geist Anteil habe und somit auch Anteil am Ewigen haben könne. Thomas von Aquin und Siger von Brabant[14] haben heftige Auseinandersetzungen um die Frage, ob der Geist des Menschen als individuell zu denken sei oder ob der Mensch nur Anteil an einem allgemein zu denkenden Geist habe, geführt.
Judentum
Wenn auch die Wiederverkörperung nicht zu einer allgemein anerkannten Lehre im Judentum wurde, so finden sich in kabbalistischen Texten, wie in dem Buch Bahir (um 1180), dem ältesten Buch der Kabbala, Vorstellungen von Reinkarnation. Gershom Scholem schreibt, dass dort «die Seelenwanderung ein Gesetz von breitester Gültigkeit, mindestens soweit es sich um die Gemeinde Israel handelt»,[15] war. Dabei stand die Frage, warum es bösen Menschen teilweise gut gehe und gerechten Menschen schlecht, im Zentrum. Im Sohar, dem heiligen Buch der Kabbala, wird die Seelenwanderung mit dem Wort Gilgul bezeichnet und in Gleichnissen dargestellt. Immer vielfältiger und komplizierter werden die Reinkarnationsideen in den auf den Sohar folgenden Schriften. Helmut Obst fasst zusammen: «Diente der Glaube an die Wiedergeburt bisher vor allem der Lösung des Theodizeeproblems, der Frage nach der Gerechtigkeit Gottes, so kommt jetzt verstärkt das Motiv hinzu, die Geheimnisse der Heilsgeschichte und der sie prägenden Persönlichkeiten besser zu verstehen. Die Kabbalisten erkennen heilsgeschichtlich bedeutsame Inkarnationsketten. Das geschieht auf dem Weg kabbalistischer Schriftauslegung, aber auch durch direkte Schau verborgener wiedergeburtlicher Zusammenhänge.»[16]
Christentum und Kirchengeschichte
Reinkarnation und Karma wurden und werden bis heute von den christlichen Kirchen abgelehnt und verworfen. Es gibt aus ihrer Sicht nach wie vor nur ein Leben. Die Idee der Reinkarnation begleitet das Christentum allerdings von Anfang an und flammt in verschiedenen «Ketzerbewegungen» immer wieder auf. Mit den Katharern, die die Reinkarnation explizit vertraten, wird diese Lehre im 12. Jahrhundert erst einmal radikal ausgerottet, soweit das überhaupt möglich war. Inspiriert waren die Katharer vermutlich durch die Gnosis, den Manichäismus, die Paulikianer und das Bogumilentum.
Blickt man auf das Alte und das Neue Testament, so stellt sich allerdings die Frage, ob es dort nicht Anspielungen gibt, die auf Reinkarnation und Karma schließen lassen. Sowohl im Alten wie im Neuen Testament gibt es Aussagen und Andeutungen, die man als Belege für Reinkarnation verstehen kann. Etwa bei Johannes 9, 1–3, Matt. 11, 7–15, Luk 1, 17 und Mk. 9,11–13.[17]
Renaissance
Im Italien der Renaissance, der Name spricht ja die Wiedergeburt aus, wurden die antiken Quellen intensiv studiert, und in diesem Zusammenhang haben sich Marsilio Ficino (1433–1499), Cristoforo Landno (1424–1498) und ganz herausragend Pico de la Mirandola (1463–1494) mit platonischen und neuplatonischen Ideen der Reinkarnation auseinandergesetzt. Ein direktes Bekenntnis hätte sofort die Inquisition herausgefordert, daher blieb es bei allegorischen Andeutungen und literarischen Anspielungen.
Lessing
Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) hat 1780, ein Jahr nach dem Tod seines Sohnes und kurz nach dem Tod seiner Frau und ein Jahr vor seinem eigenen Tod, sein religionsphilosophisches Hauptwerk Die Erziehung des Menschengeschlechts verfasst und es in der Frage gipfeln lassen: «Warum könnte jeder einzelne Mensch auch nicht mehr als einmal auf dieser Welt vorhanden gewesen sein?»[18] Damit hat er die bis dahin durch die Kirchen geleugnete und fast in Vergessenheit geratene Idee der Wiederverkörperung wie eine Fackel in der Geistes- und Kulturgeschichte des Abendlandes neu entzündet. Tatsächlich weitergeführt und ganz neu gedacht werden durch ihn die Keime, die sich in früheren Anschauungen finden. Lessing nimmt uns, wie er in der Vorbemerkung des Herausgebers ankündigt, auf einem Weg mit, den er in 100 Paragraphen formuliert. Es ist eine Meditation über das Alte und das Neue Testament, die dem Verhältnis von Erziehung und Offenbarung nachgeht und in die Frage, die sich an den eingangs zitierten Gedanken anschließt, mündet: «Warum sollte ich nicht so oft wiederkommen, als ich neue Kenntnisse, neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin? Bringe ich auf einmal soviel weg, dass es der Mühe wiederzukommen etwa nicht lohnet?»[19] Lessing geht hier ganz von der praktischen Lebensbeobachtung aus. Er hat den Blick auf die tätige, sich immerfort bilden wollende Individualität gerichtet und damit auf das innerste Tätigkeitszentrum des Menschen.
Goethe
Die schwierige Beziehung zu der sieben Jahre älteren und verheirateten Hofdame Charlotte von Stein beschreibt Johann Wolfgang Goethe (1749–1831) in einem Brief an Wieland folgendermaßen: «Ich kann mir die Bedeutsamkeit – die Macht, die diese Frau über mich hat, anders nicht erklären als durch die Seelenwanderung. – Ja, wir waren einst Mann und Weib! – Nun wissen wir von uns – verhüllt, in Geisterduft, – ich habe keine Namen für uns – die Vergangenheit – die Zukunft – das All.»[20] In dem Gedicht «Warum gabst Du uns die tiefen Blicke» spricht er deutlich von einer gemeinsamen Vergangenheit:
Sag’, was will das Schicksal uns bereiten?
Sag’, wie band es uns so rein genau?
Ach, du warst in abgelebten Zeiten
Meine Schwester oder meine Frau.»[21]
In dem berühmten Gespräch mit Falk äußert Goethe am 25. Januar 1813 aus einer mehr wissenschaftlichen Perspektive: «Was nun die persönliche Fortdauer unserer Seele nach dem Tode betrifft, so ist es damit auf meinem Wege also beschaffen: Sie steht keineswegs mit den vieljährigen Beobachtungen, die ich über die Beschaffenheit unserer und aller Wesen in der Natur angestellt, im Widerspruch; im Gegenteil, sie geht sogar aus derselben mit neuer Beweiskraft hervor […] ich bin gewiss schon tausendmal hier gewesen und hoffe wohl noch tausendmal wiederzukommen.»[22] Goethe denkt aus seiner Wahrnehmung der Phänomene der äußeren Natur und ihrer Wesen und nimmt im Blick auf die äußerlich sichtbaren Entwicklungen bei Pflanzen und Tieren ein Kontinuum wahr, dass ihn dazu veranlasst, auch im Menschen ein Fortdauerndes in der Seele nach dem Tode anzunehmen.
Bei Lessing und Goethe zeigt sich, wie von einem eigenständigen Ich die Realität der Reinkarnation, einmal aus der Selbstbeobachtung als mehr innerer Prozess, das andere Mal aus der Anschauung der äußeren Natur als Evidenz wahrgenommen werden kann. Gegenüber älteren Anschauungen, die mehr von moralisch-ideellen oder religiösen Fragen ausgegangen sind, ist dieser konkret aus der Beobachtung gespeiste Zugang neu.
19. Jahrhundert
25 Jahre nach Goethes Tod setzte eine gänzlich andere Strömung ein, die die Dualität zwischen der irdischen und der geistigen Welt wieder betont. Das mag eine Art Gegenreaktion zum seit den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts aufkommenden Materialismus gewesen sein. 1857 veröffentlicht Allan Kardec (1804–1869) Das Buch der Geister und die Grundsätze der Geisteslehre.[23] Dieses zentrale Werk des Spiritismus enthält eine systematische Zusammenfassung von Belehrungen, die von höheren Geistern offenbart und durch zwei Medien übermittelt wurden. Die Reinkarnation war darin eine der Grundlehren. Nach Kardec muss der Mensch «zum Zweck der Sühne und Besserung» mehrere «Einverleibungen»[24] durchmachen. Auch Helena Petrowna Blavatsky (1831–1891) behandelte in ihren Werken Isis entschleiert 1877 und in ihrer Geheimlehre 1888 die Reinkarnation als eine Lehre, die durch Offenbarungen aus der geistigen Welt mitgeteilt wird. Die physische und die geistige Welt werden als streng getrennt betrachtet. Allein die geistige Welt hat einen Wert. Verkörperungen in mehreren Inkarnationen werden mit dem Zweck der Sühne durchgemacht, haben aber keinen Wert für sich.
Soweit eine Auswahl von Beispielen, die die Idee von Reinkarnation und Karma in der Geistesgeschichte in sehr unterschiedlicher Weise zeigen. Man kann also sehen, dass die Idee von Reinkarnation und Karma, wenn auch teilweise im Untergrund, immer anwesend geblieben ist und durch die verstärkte Rezeption der Antike in der Renaissance und später dann an Aufmerksamkeit und Interesse gewann.
20. Jahrhundert und Gegenwart
Lessings Frage bewegt in Europa und Amerika seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts immer mehr Menschen. Seit dieser Zeit wurden zahlreiche Menschen spontan, während der Hypnose oder auch durch Nahtoderlebnisse mit Erfahrungen konfrontiert, in denen sie sich in das Leben einer anderen Person, in einer anderen Zeit versetzt fühlten und dieses dennoch als ihr eigenes empfanden. Sie zeigten plötzlich ganz unbekannte Fähigkeiten, Verhaltensweisen und konnten Sprachen sprechen oder verstehen, die sie in ihrem bisherigen Leben nicht einmal kannten.[25]
Es traten zudem und unabhängig davon, wie die einzelnen Menschen zu Reinkarnation und Karma standen, im wachen Tagesbewusstsein spontane «Erinnerungen» auf, die die Betreffenden als aus einem eigenen früheren Erdenleben kommend empfanden. Das war teilweise mit körperlichen Merkmalen wie z. B. Muttermalen verbunden, die sich an der Stelle befanden, wo der Betreffende in einem vorigen Leben durch eine Waffe den Tod gefunden haben soll. Ebenso gibt es Träume, in denen die Betreffenden sich in frühere Erdenleben versetzt fühlen, und sich diese Träume teilweise sogar mit historischem Material belegen lassen.[26]
Ende der 70er Jahre hat Thorwald Detlefsen (1946–2010) die «Reinkarnationstherapie» entwickelt, in der die Klienten mittels Hypnose in frühere Erdenleben zurückgeführt werden. Detlefsen hat sich später dann auf die Hermetische Philosophie und die Astrologie als Quellen berufen. Er vertritt die Ansicht, dass der Geist, anders als die Seele, unpersönlich ist. Das hat für das Verständnis der Reinkarnation weitreichende Folgen, wie wir noch sehen werden. Inzwischen gibt es die unterschiedlichsten Methoden von Reinkarnationstherapien und Rückführungen. Es gibt auch den Blick nach vorne, durch «Vorausführungen» in die Zukunft. Zudem gibt es seit ca. 70 Jahren die Bewegung der «Immortals», die die physische Unsterblichkeit anstreben. Ich deute das hier nur kurz an.[27]
Neuerdings wollen die technischen Zukunftsvisionen der Transhumanisten mittels eines Downloads des Bewusstseins und Inhalts eines menschlichen Gehirns auf eine Maschine 2045 die sogenannte Singularität erreichen. Sie streben damit auf technische Weise ein, wie sie hoffen, unbegrenztes Leben an.
Hier ist die Frage der Unsterblichkeit ganz ins Materielle abgesunken. Krankheit, Alter und Tod und damit die Bedingungen des menschlichen Leibes sollen durch Technik überwunden und ohne eine biologische Grenze ins Unendliche ausgedehnt werden. Reinkarnation und Karma werden damit grundsätzlich negiert und stattdessen dauernde Bewusstheit und Ewigkeit und Unsterblichkeit angestrebt. Diese technischen Visionen sind allerdings schon rein materiell nur für wenige Menschen überhaupt erschwinglich und berücksichtigen in keiner Weise, dass jeder Mensch durch sein seelisches und geistiges Wesen in einem karmisch bedingten Umkreis von anderen Menschen lebt, mit denen er über Inkarnationen verbunden ist, und die zu seinem Leben gehören.
Mit dieser kleinen Skizze liegt ein reiches Panorama mit Beispielen von Anschauungen zur Idee der Reinkarnation vom Hinduismus bis zum Transhumanismus vor unseren Augen. Auch wenn es eine sehr knappe und holzschnitthafte Skizze ist, wird deutlich, welches das historische und geistige Umfeld ist, in das sich Rudolf Steiners Anschauung von Reinkarnation und Karma stellt.
Ein durchgehendes Thema, das immer wieder aufleuchtet, ist die Frage nach dem Verhältnis von Leib, Seele und Geist sowie nach dem Kern der Persönlichkeit, dem über ein Leben hinaus die Kontinuität bildenden Element eines Geistseelischen, des Geistes oder des Ich. Wobei beim Geist die Frage ist, inwiefern er individuell gedacht wird oder mit ihm nur ein Anteilnehmen an einer allgemeinen Geistigkeit bedeutet.
Reinkarnation und Karma bei Rudolf Steiner
Reinkarnationsideen wurden und werden meist im Zusammenhang mit einer Religion entwickelt oder wie im deutschen Idealismus als philosophische Idee oder poetische Imagination. Der Ansatz Rudolf Steiner ist von 1903 ab, mit den Aufsätzen in Lucifer Gnosis[28] beginnend, ein anderer. Er knüpft Reinkarnation und Karma an naturwissenschaftliche Vorstellungen und Ideen an, um sie als eine Denkmöglichkeit für jeden Menschen darzustellen. Aus einem konsequenten Denken müssen sie sich so als innere Notwendigkeit ergeben. Auf diesem Zugang zu Reinkarnation und Karma baut er systematisch weiter auf und entwickelt das Thema in seinen vielfältigen Dimensionen über 21 Jahre bis zu der Serie von 82 Karma-Vorträgen[29] in seinem letzten Lebensjahr 1924.
Reinkarnation und Karma umfassen bei Rudolf Steiner nicht nur diese beiden Themen als einen Spezialbereich, wie etwa die Seelenwanderung, sondern das Thema wird gleichsam aus dem Herzen, dem Zentrum der Anthroposophie, entfaltet. Denn es ist damit zugleich eine Menschenkunde verbunden, die Leib, Seele und Geist in neun Wesensglieder differenziert und beschreibt, wie diese sowohl mit den Naturreichen als auch der Seelen- und der Geistwelt zusammenhängen und zudem mit den darin wirkenden geistigen Wesen verbunden sind. Daran schließt sich die Darstellung des Weges der Seele nach dem Tod durch die planetarisch-kosmische Welt, die Seelenwelt und das Geisterland an. Aus den Erfahrungen und Entwicklungen in diesen Bereichen und der Zusammenarbeit mit den geistigen Hierarchien ergeben sich dann die Voraussetzungen für eine neue Verkörperung auf der Erde. Zuletzt werden die entsprechenden Schulungsanregungen gegeben, um höhere Erkenntnisformen auszubilden, mit denen man die Wirklichkeitsbereiche ab der ätherischen Ebene wahrnehmen kann.
Nach einer einführenden Darstellung in der Theosophie, die die Grundlagen legt, erweitert Rudolf Steiner 1910 in Die Geheimwissenschaft im Umriss seine Beschreibung der Wesensglieder im Zusammenhang mit der planetarischen Entwicklung früherer Erdzustände, der Tätigkeit der Hierarchien und die Darstellung der Kulturepochen zu einem größeren geistesgeschichtlichen Horizont. So ruht die ganze Anthroposophie auf dem Grundgedanken von Reinkarnation und Karma.
Der Beginn 1903
Nachdem die Theosophen 1903 die Arbeit mit «Praktischen Karmaübungen» abgelehnt hatten, publizierte Rudolf Steiner in der Zeitschrift Luzifer-Gnosis einen Aufsatz mit dem Titel «Reinkarnation und Karma, vom Standpunkte der modernen Naturwissenschaft notwendige Vorstellungen».[30] Er greift hier das von Goethe in dem Gespräch mit Falk Angedeutete auf und stellt eine Verbindung zur modernen Naturwissenschaft und ihren methodischen Verfahrensweisen her, die er auf das seelische und geistige Gebiet hin erweitert.
So werden in diesen ersten Aufsätzen in Lucifer Gnosis essenzielle Themen zu den Fragen, wie Karma wirkt, wie die verschiedenen früheren Leben mit dem jetzigen zusammenhängen und wie das jetzige Leben Wirkungen früherer Leben enthält, aber auch wie dieses Leben dann zur Ursache späterer Verkörperungen werden kann, behandelt. Ebenso wird der Zusammenhang von Gesundheit und Krankheit mit dem Karmagesetz thematisiert. Dabei fällt auf, dass Rudolf Steiner nicht auf die philosophischen oder religiösen Theorien vergangener Reinkarnationsanschauungen Bezug nimmt, sondern aus der Beobachtung des Lebens und ausgehend von praktischen Lebensfragen den Karmagedanken entwickelt.
Das Buch Theosophie
In dem 1904 publizierten schriftlichen Werk Theosophie. Einführung in die übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung[31], an dem Rudolf Steiner währenddessen arbeitete, formuliert er erstmals die Grundlagen seines im Vergleich zu früheren Anschauungen systematischen Zugangs zu Reinkarnation und Karma. Er legt differenziert dar, wie die drei Wesensschichten Leib, Seele und Geist aufeinander wirken und miteinander zusammenhängen, welche Seelentätigkeiten diese verbinden und wie sie wiederum mit den Naturreichen, der seelischen und der geistigen Welt verbunden sind.
Am Ende von «Abschnitt III», in dem Kapitel «Das Wesen des Menschen», findet sich eine Anregung zur Meditation, die für die Karma-Erkenntnis fundamental ist: «Durch Besinnung auf das eigene Selbst sich den Unterschied von Leib, Seele und Geist klarzumachen, ist eine Anforderung, die an denjenigen gestellt werden muss, der sich denkend über das Wesen des Menschen aufklären will.»[32] Hier wird der konkrete, zur eigenen Selbstbeobachtung anregende Charakter der Darstellung erlebbar.
Was bedeutet es denn, «sich denkend über das Wesen des Menschen» aufzuklären? Diese Aufforderung ist radikal neu und modern. Es handelt sich dabei nicht um eine von außen kommende Offenbarung, sondern um eine im Innern gebildete Erkenntnis, die Selbstanschauung und innere Orientierung in den drei Wesensschichten von Leib, Seele und Geist ermöglicht. All die Einzelaspekte, die wir in den anfangs knapp skizzierten älteren Anschauungen kennengelernt haben, werden nun in einer Einheit von neun Wesensgliedern mit jeweils drei leiblichen, drei seelischen und drei geistigen Gliedern zusammengeführt. Karmawirkungen ereignen sich in den drei Wesensschichten und können durch das handelnde Ich, das die Wesensglieder verwandeln kann, gestaltet werden. Freilich stand der Mensch in früheren Zeiten in einem anderen Verhältnis zu Leib, Seele und Geist als heute. Die Wesensschichten waren wesentlich lockerer miteinander verbunden und der Geist war, wie wir gesehen haben, noch gar nicht individuell, da das Ich noch nicht in dieser Weise inkarniert war.
Man könnte sagen, erst am Beginn des 20. Jahrhunderts war der Mensch als Bewusstseinsseelenmensch so weit, «sich denkend über das Wesen des Menschen», also über sich selbst, aufzuklären. Mit diesem Akt der Selbsterkundung geht einher, dass der Mensch sich von einer anfänglichen Leiborientierung zunehmend durch das Denken mit den Gesetzen des Wahren und Guten verbinden und dadurch die leibliche Bindung zugunsten einer geistigen überwinden kann. Die Orientierung an der Leib und Seele gestaltenden Rolle des Denkens wird in der Theosophie, nachdem die Bewusstseinsseele eingeführt wurde, an eine nächste Instanz abgegeben. Diese weist eine vollkommen neue Qualität auf und stammt aus einer anderen Quelle. Es ist das Ich, das, wie Rudolf Steiner beschreibt, «der Mensch selbst» ist. «Das berechtigt ihn, dieses «Ich» als seine wahre Wesenheit anzusehen.»[33]
In der Theosophie entwickelt Rudolf Steiner den Gedanken wie folgt weiter: «Indem der Mensch also zu sich ‹Ich› sagt, beginnt in ihm etwas zu sprechen, was mit keiner der Welten etwas zu tun hat, aus denen die bisher genannten ‹Hüllen› entnommen sind. Das ‹Ich› wird immer mehr Herrscher über Leib und Seele.»[34]
Wir haben hier eine die drei bisherigen Wesensschichten überragende Instanz, die aus einer anderen, ungenannten Quelle stammt. Jean Paul zitierend und bestätigend, bleibt die eigentliche Wesenheit des Menschen unsichtbar, sie ist eine bloß «im verhangenen Allerheiligsten des Menschen vorgefallene Begebenheit.»[35]
Das Ich verwendet Leib und Seele als seine Hüllen, mit denen es in der Welt, im Sinne von Werkzeugen, tätig wird. Im Hinblick auf den Geist wird das Ich nun vom Akteur allerdings selbst zum Gefäß: «Das ‹Ich› lebt in Geist und Seele; der Geist aber lebt im Ich. Und was vom Geiste im Ich ist, das ist ewig. Denn das Ich erhält Wesen und Bedeutung von dem, womit es verbunden ist.»[36] Wir sehen hier, wie das Ich diejenige Wesenheit ist, die einerseits alle drei Wesensschichten verbindet und diese von sich aus gestalten kann. Es liegt an ihm, sich entweder von den Begehrungen des Leibes bestimmen zu lassen oder sich zum Gefäß zu machen, in dem Intuitionen der geistigen Gesetze aufblitzen, durch die es Leib und Seele gestalten und verwandeln kann, um so Anteil an der Ewigkeit zu erlangen. Den Gesetzen des Ewigen teilhaftig zu werden, ist nunmehr keine Frage der Offenbarung von außen, sondern es ist innere Seelen- bzw. Geistesarbeit.
Wir können sehen, dass Rudolf Steiner die Anschauung von Reinkarnation und Karma aus der Menschenkunde der denkenden Seele entwickelt. Insofern ist es konsequent, dass er auch in dem Kapitel «Wiederverkörperung und Schicksal» nicht an alte orientalische Anschauungen, die in der Theosophischen Gesellschaft üblich waren, anknüpft, sondern an die Denkformen der modernen Naturwissenschaft und diese zur seelischen Beobachtung nach naturwissenschaftlicher Methode verwendet.
Daraus ergibt sich ein Umgang mit Reinkarnation und Karma, der glasklar aus der Souveränität des Ich gestaltet ist und in keiner Weise Anklänge an Formen des alten gefühls- und ahnungsgetragenen Hellsehens hat. Nur das souverän denkende Ich kann sich verantwortlich geistigen und karmischen Gesetzen gegenüberstellen. Nur das souveräne und wache Ich ist dazu in der Lage, durch präzise Beobachtungsgabe in der Welt der Erscheinungen die prä- gnanten Punkte, also die charakteristischen Merkmale zu sehen, und sie so im Erinnern durchzuarbeiten. Daraus können dann Imaginationen, Inspirationen und Intuitionen für die Erkenntnis früherer Erdenleben entstehen.
Die ätherische, astrale und die Geistwelt sind nur durch die Fähigkeiten höheren Erkennens wahrnehmbar. Auch hier gilt, dass nur die selbst errungene Bildgestaltung, das anschließende Abglimmen, Wegschaffen der Bilder und ein Auftauchen von neuen Bildern, die wie aus dem Nichts sich ergeben, durch gründliche Denkarbeit gewonnen werden kann. Das sind die an der Naturwissenschaft herangebildeten seelisch-geistigen Verfahrensweisen.
Diese Denktätigkeit des souveränen Ich ist allerdings nicht nur eine auf den Menschen selbst bezogene. Ihr höheres Sein und ihre innere Substanz verdankt sie der Christuswesenheit, die durch den Auferstehungsleib die Bedingungen dafür geschaffen hat. Das Denken als zunächst kalte, abstrakte und tote, gespiegelte Tätigkeit kann im Überschreiten seiner selbst, mit den Kräften Christi, d. h. seinem Geistleib und Auferstehungsleib, zusammenklingen und durch die opfernde Hingabe an die Intuitionen des Geistes erwärmt und sehend werden. Es erhält Herzensqualität und bleibt nicht nur ideeller Abglanz. Karma-Erkenntnis ist Geisterkenntnis aus dem denkenden Herzen für die Zukunft.
Dr. phil. Christiane Haid studierte Erziehungswissenschaften, Germanistik, Geschichte und Kunst in Freiburg und Hamburg. 2012 promovierte sie zu Albert Steffen: Mythos, Traum und Imagination. Die kleinen Mythen Albert Steffens. 2009–2019 leitete sie den Verlag am Goetheanum und hatte von 2019 bis 2025 die Programmleitung inne. Seit 2012 ist sie Leiterin der Sektion für Schöne Wissenschaften, seit 2020 zudem Leiterin der Sektion für Bildende Künste und seit 2024 Leiterin des Kunststudienjahrs am Goetheanum.
[1] Ian Stevenson: Reinkarnation in Europa. Dokumentierte Fälle, Grafing 2020.
[2] Helmut Obst: Reinkarnation. Weltgeschichte einer Idee, München 2009, S. 7.
[3] Rudolf Steiner: Die Geheimwissenschaft im Umriss, GA 13, Dornach 1989, S. 130.
[4] Einschlägig zu dem Thema und anregend für diesen Aufsatz war das Buch von Helmut Obst: Reinkarnation. Weltgeschichte einer Idee, München 2009; aber auch: Manfred Krüger: Ichgeburt. Origenes und die Entstehung der Wiederverkörperung in der Denkbewegung von Pythagoras bis Lessing, Hildesheim, Zürich, New York, 1996; Martin Basfeld, Wolf-Ulrich Klünker, Angelika Sandtmann: Einsicht in Wiederverkörperung und Schicksal, Stuttgart 1993.
[5] Rudolf Steiner: Theosophie, Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung, GA 9, Dornach 1987, S. 88.
[6] Ebd., S. 77.
[7] Helmut Obst: Reinkarnation. Weltgeschichte einer Idee, München 2009, S. 13.
[8] Manfred Krüger: Ichgeburt. Origenes und die Entstehung der Wiederverkörperung in der Denkbewegung von Pythagoras bis Lessing, Hildesheim, Zürich, New York 1996, S. 9.
[9] Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. 2, Hildesheim 1989, S. 364.
[10] Platon: Phaidros 246 b–c.
[11] Platon: Menon 81, übersetzt von Otto Apelt, Hamburg 1988, S. 38 f.
[12] Herwig Görgemanns, Heinrich Karpp (Hg.): Vier Bücher von den Prinzipien, Darmstadt 1985.
[13] Manfred Krüger: Ichgeburt. Origenes und die Entstehung der Wiederverkörperung in der Denkbewegung von Pythagoras bis Lessing, Hildesheim/Zürich/New York 1996, S. 128.
[14] Wolf-Ulrich Klünker, Bruno Sandkühler: Menschliche Seele und kosmischer Geist. Siger von Brabant in der Auseinandersetzung mit Thomas von Aquin, Stuttgart 1988.
[15] Gershom Scholem: «Seelenwanderung und Sympathie der Seelen in der jüdischen Mystik», in: Eranos-Jahrbuch 1955, Bd. XXIV, Zürich 1956, S. 70.
[16] Helmut Obst: Reinkarnation. Weltgeschichte einer Idee, München 2009, S. 71.
[17] Vgl. hierzu den Beitrag von Mechtild Oltman «Zeitenwende – Leben mit dem Karmagedanken als Zukunft» in der vorliegenden Ausgabe.
[18] Gotthold Ephraim Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts, Stuttgart 1962, S. 29.
[19] Ebd., S. 29.
[20] Goethe-Briefe. Mit Einleitungen und Erläuterungen, Hg: Philipp v. Stein, Berlin 1902, Bd. II, S. 36 f.
[21] Johann Wolfgang von Goethe: Werke, Bd. I, Hamburg 1948, S. 123.
[22] Johann Wolfgang von Goethe: Napoleonische Zeit. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Teil III, hrsg. von Rose Unterberger, Frankfurt am Main, 1994, S. 171.
[23] Allan Kardec: Das Buch der Geister und die Grundsätze der Geisteslehre, Leipzig 1922.
[24] Martin Basfeld, Wolf-Ulrich Klünker, Angelika Sandtmann: Einsicht in Wiederverkörperung und Schicksal, Stuttgart 1993, S. 120.
[25] Ebd., S. 112.
[26] Ebd.
[27] Ebd.
[28] Rudolf Steiner: Luzifer Gnosis, GA 34, Dornach 1987.
[29] Rudolf Steiner: Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge, GA 235–240,Dornach.
[30] Rudolf Steiner: Luzifer Gnosis, GA 34, Dornach 1987, S. 67.
[31] Rudolf Steiner: Theosophie, GA 9, Dornach 1987.
[32] Ebd., S. 33.
[33] Ebd., S. 49.
[34] Ebd., S. 50.
[35] Ebd., S. 49.
[36] Ebd., S. 50.