Verblüffender Theaterzauber
Zu Dead Centre: ›Die Erziehung des Rudolf Steiner‹ im Schauspielhaus Stuttgart Feuilleton
Vor der Premiere hatte auf dem Stuttgarter Hügel stille Besorgnis geherrscht. »Für ihre erste Arbeit am Schauspiel Stuttgart nimmt sich das britisch-irische Theaterkollektiv Dead Centre der Figur des Philosophen und Reformpädagogen Rudolf Steiner und des von ihm entwickelten Waldorfschulsystems an«, textete die Presseabteilung des Schauspielhauses: »Woher stammen die Strahlkraft und Ambivalenz dieser Figur, die von den einen als Prophet vergöttert und von anderen als Urheber realitätsferner Glaubenstheorien verurteilt wird?«[1] Fehlte nur noch das Adjektiv »umstritten«.
Würde sich diese Inszenierung im selben Fahrwasser bewegen wie die Ausstellung ›Not my hero‹ im Stuttgarter Stadtpalais, in der Rudolf Steiner – neben G.W.F. Hegel, Hanns-Martin Schleyer und vier weiteren Persönlichkeiten – auf »Risse und Ungereimtheiten« in seinem Leben untersucht wurde? »Nüchtern kontrastieren verwerfliche Ansichten und Handlungen die leuchtende Erinnerung«[2], hieß es da ominös in der Ankündigung. Mit »Hegel, Steiner, Zetkin – Ausstellung ›Not My Hero‹ kratzt am Glanz Stuttgarter Helden« überschrieb der SWR adäquat seinen Ausstellungsbericht,[3] was den Kollegen von der ARD-Audiothek allerdings nicht plakativ genug war: »Rudolf Steiner, der Rassist? Ausstellung ›Not My Hero‹ kratzt am Glanz Stuttgarter Heldensagen«, entsprach offenbar eher der gewünschten Tendenz.[4] Eine Rudolf Steiner gewidmete
Diskussion im Rahmen der Ausstellung unter Beteiligung von Ansgar Martins war dann aber angenehm sachlich verlaufen.
Nun also ein Theaterstück: ›Die Erziehung des Rudolf Steiner‹ von Dead Centre. »Das britisch-irische Theaterkollektiv Dead Centre um das Regie- und Autorenduo Ben Kidd und Bush Moukarzel«, teilte das Schauspiel Stuttgart mit, »gründete sich 2012 und realisiert seither international Theaterprojekte, u.a. in Dublin, Göteborg und Wien. Oft dienen historische Figuren oder Ereignisse als Ausgangspunkte ihrer Inszenierungen. So entstanden am Wiener Burgtheater ›Alles, was der Fall ist‹, ein Abend über den Philosophen Ludwig Wittgenstein, ›Die Traumdeutung von Sigmund Freud‹ und zuletzt ›Katharsis‹. Ihre Arbeiten verweben Fakten und Fiktion unter dem Einsatz multimedialer Mittel.«[5] Dabei hatten sich Kidd und Moukarzel vorher nie eingehend mit Rudolf Steiner beschäftigt, und diese Unbelecktheit sollte sich zugleich als Schwäche wie als Stärke dieses Projekts herausstellen. Immerhin wurden sie während der Entwicklung von keinem Geringeren als Walter Kugler beraten.
Im Mittelpunkt dieses Theaterabends steht ein achtjähriges Kind namens Samuel (Flinn Naunheim, Levin Raser und Samuel Santangelo), durch das angeblich Rudolf Steiner spricht. Einerseits erinnert diese Figur an die auktorialen Erzähler des epischen Theaters, andererseits an die altklugen Kinder aus amerikanischen Sitcoms, die von mehr oder weniger lächerlichen Erwachsenen umzingelt sind – freilich mit Anklängen an den Jungen in ›The Sixth Sense‹ (USA 1999), der Verstorbene sehen kann. Samuel führt durch das Stück und referiert über das Leben und die Lehre Rudolf Steiners bzw. über das, was Kidd und Moukarzel davon verstanden haben. Manches davon ist schief und manches schlicht und einfach falsch, aber man hat nie den Eindruck böswilliger Verzerrung, eher von spielerischer Unbefangenheit, wie man sie von deutschsprachigen Künstlern kaum erwarten dürfte. Geistreich wird immer wieder auf Goethes ›Faust‹ Bezug genommen, wobei dessen Ende mit dem von Richard Wagners ›Götterdämmerung‹ zu verschwimmen scheint – wahrscheinlich, um am Schluss des Abends den Brand des ersten Goetheanums assoziativ damit verbinden zu können.
Zwischen Boulevard und epischem Theater
Wie es der Tradition des epischen Theaters entspricht, reflektiert sich das Stück selbst als solches. Gleichzeitig bietet die Inszenierung geradezu verblüffenden Theaterzauber. Offenbar fühlten sich Kidd und Moukarzel vor allem von dem Gedanken inspiriert, dass es hinter oder neben der physischen Welt eine geistige Welt gibt. Dies wird durch eine halbdurchlässige Spiegelwand ins Bild gebracht, die den Bühnenraum in voller Breite teilt. Als Zuschauer erblickt man so beim Blick auf die Bühne zunächst das eigene Spiegelbild. Bald aber wird durch entsprechende Beleuchtung der Raum dahinter sichtbar. Und schließlich werden vor und hinter dem Spiegel die gleichen Möbel aufgestellt, sodass die Menschen scheinbar in demselben Raum agieren, auch wenn sie durch die Wand getrennt sind. Dieser Effekt ist wahrhaft faszinierend. So wird die bekannte Geschichte, wie Rudolf Steiner als achtjähriger Knabe im Wartesaal des Bahnhofs von Pottschach seine durch Selbstmord verstorbene Tante wahrnimmt, höchst überzeugend dargestellt.
Neben Motiven aus Steiners Leben wird eine boulevardeske Familiengeschichte gezeigt, in der Samuels Eltern auf seine Tante (Mina Pecik) und ihren neuen Lebensgefährten treffen. Samuels kumpeliger Vater (Philipp Hauß), seines Zeichens Arzt und überzeugter Schulmediziner, darf sich nun mit einem impfskeptischen Querdenker (Felix Strobel) auseinandersetzen, der irgendwann mit der verunsicherten Mutter (Therese Dörr) ins Bett steigt. Dieses Quartett handelt im Schnelldurchgang alle gängigen Klischees ab, vom Namentanzen bis zu rassistischen Äußerungen, denn Samuel besucht die Waldorfschule Uhlandshöhe, wie vor ihm seine Mutter und Tante, und auch der esoterisch angehauchte Casanova ist Ex-Waldorfschüler. Nur der Vater fremdelt mit der Waldorfpädagogik, weshalb ihm die bissigsten Kommentare zugeteilt werden. So gibt es viel zu lachen, denn Pro und Kontra bleiben stets mit spielerischer Leichtigkeit im Gleichgewicht.
Gegen Ende verwandelt sich Samuel in einen alten Mann (Reinhard Mahlberg), ohne dass seine Eltern diese Verwandlung irgendwie zur Kenntnis nehmen, nur um bald wieder verjüngt zu erscheinen. Denn Kidd und Moukarzel missverstehen Steiners Reinkarnationsgedanken im Sinne der ewigen Wiederkehr des Gleichen von Friedrich Nietzsche. So kehrt das Stück zu seinem Anfang zurück, der Kreis schließt sich, es ertönen wieder die ersten Sätze. Nach dem letzten Blackout applaudiert das Publikum herzlich, besonders der bemerkenswerte Kinderdarsteller wird mit Beifall bedacht. Hinterher stellt man fest, dass sogar noch mehr Anthroposophen im Saal saßen, als einem vorher aufgefallen waren, und kommt aus einem von spürbarer Erleichterung geprägten Händeschütteln gar nicht mehr heraus. Das Programmheft mit Beiträgen von Walter Kugler und Ansgar Martins wird als angemessenes Andenken gern mit nach Hause genommen.
Geht irgendwie in Ordnung
Das Echo in den regionalen und überregionalen Medien war groß und überwiegend freundlich. Die ›Stuttgarter Zeitung‹ demonstrierte indessen, dass man auch dann über die Waldorfpädagogik nichts als unreflektierte Klischees im Kopf haben kann, wenn man an deren Geburtsort beheimatet ist. »Steiners Ideen zu Kindern« seien »nicht wirklich fortschrittlich, weil er sie nicht als Individuen versteht, sondern als reinkarnierte Seelen, verdammt dazu, immer wieder aufs Neue in einen ›physischen Leib‹ geboren zu werden«, tadelte die Rezensentin: »Dass Flinn den von Steiner verehrten Goethe auswendig plappert, ohne ihn zu begreifen, mag man drollig finden. Viele Erwachsene könnten ihn auch nicht verstehen, kontert Steiner durch Flinn. Dass die Waldorfpädagogik aber mit ihrem sturen Diktum von den sogenannten Jahrsiebten autoritär über die Bedürfnisse jüngerer Kinder hinweg bügelt und sie zu Automaten degradiert, wollen ihre Anhänger nicht wahrhaben.« Das gesinnungsfeste Fazit lautete dementsprechend: »Die rassistischen Elemente und die Gefahren der Weltabgewandtheit von Steiners Esoterik werden in der Inszenierung nur en passant kritisch gewürdigt. So bleibt die Anthroposophie auch hier ein seltsames, verführerisch schillerndes Konstrukt.«[6]
In der ›taz‹ begann der Rezensent Björn Hayer dort, wo die ›Stuttgarter Zeitung‹ aufgehört hatte: »Wie viele berühmte Denker verlor auch der Reformpädagoge Rudolf Steiner (1861 bis 1925) seine Unschuld. Rassistische und deutschnationale Anklänge in seinen Schriften offenbaren für Leser:innen der Spätmoderne längst die Schattenseiten eines Intellektuellen, dessen Philosophie ihren Anfang eigentlich in der Freiheit nahm.« Nur um dann überraschend abzubiegen: »Im Theater einen kritischen Blick auf diesen einst so auratischen Begründer von Waldorfschulen und Anthroposophie zu werfen, wäre zwar erwartbar, aber eben auch ein wenig fade.« Am Ende der Rezension, die eine weitere Stuttgarter Inszenierung in den Blick nahm, stand das Lob, dass beide »jeweils den Traum von einem anderen Dasein entfalten. In einer Zeit, die uns aktuell so trostlos und festgefahren erscheint, mutet diese Aussicht auf Veränderbarkeit erfrischend und ermutigend an. Wir sind frei. Und zwar nicht nur auf der Bühne.«[7]
Wie angetan Hayer war, zeigte sich auch in seinem Audio-Bericht für den ›Deutschlandfunk‹. Von seiner strengen Gesprächspartnerin Marietta Schwarz nach über drei Minuten rückhaltlosen Lobes darauf hingewiesen, dass man den »mindestens umstrittenen Theosophen und Pädagogen« ja auch als »Esoteriker« und sein Menschenbild als »rassistisch« bezeichnen könne, und danach befragt, welcher Haltung sich Dead Centre hierzu befleißige, reproduzierte er das Konstrukt des »libertären Autoritarismus«,[8] indem er am Beispiel der »Impfgegnerschaft« die »Kehrseite des völlig freiheitlichen, kritischen Denkens, das eben auch ins Totalitäre umschlagen kann«, beklagte. Beschwichtigend revidierte er dann seine eingangs munter vorgetragene Ansicht, dass Steiners Philosophie »an diesem Abend eigentlich auf die Bühne gebracht« werde: Es gehe vielmehr »gar nicht mal nur so sehr um die Philosophie Steiners, sondern es geht darum, wie wir eigentlich aus Fantasie unsere Welt schaffen«. So habe dieser Theaterabend »im buchstäblichen Sinne tatsächlich auch etwas Magisches«.[9]
Ohne überflüssige Verrenkungen fiel hingegen das Urteil der ›Heilbronner Stimme‹ aus: »Was mysteriös anmutet, gerät zu einem so kurzweiligen wie subtilen und intelligenten Theaterabend, der nicht vorgibt, alles über Rudolf Steiner zu wissen. Dead Centre […] erkunden die kreative Kraft in Steiners Denken und das, was überholt ist. Zudem interessieren sie sich, wie Moukarzel im Interview formuliert, ›für die Resonanzen zwischen dem esoterischen Denken und der aktuellen QuerdenkerBewegung‹. Das fantastische Ensemble macht die Ambivalenzen greifbar, nicht nur von der Person Steiner, auch von dem, was als Mainstream erst kritisches Denken provoziert.«[10]
Die ›Frankfurter Allgemeine Zeitung‹ schließlich erstaunte mit – den Einfluss der Anthroposophie kurios überschätzenden – Thesen wie: »Wer sich in Stuttgart, dem Rom der anthroposophischen Bewegung, traut, ein Boulevardstück über Rudolf Steiner aufzuführen, beweist Mut.« Und: »Für die anthroposophische Weltsicht gibt es in der technisierten, krisengeplagten Gegenwart des digitalen Kapitalismus eine ständig nachwachsende Nachfrage: Sei es von Corona-Leugnern oder von Menschen, die mit der Moderne generell hadern. Irgendwie sind wir eben alle Steiner-Adepten, häufig, ohne es zu wollen, zu wissen oder es zu merken.« Insbesondere zeige das »Theater als Hort der Phantasie und des Widerstands naturgemäß viel Sympathie für die Lehren der Anthroposophen. Irgendwie geht das in Ordnung.«[11]
Da haben wir ja nochmal Glück gehabt.
Claudius Weise, *1971, ist seit 2015 verantwortlicher Redakteur dieser Zeitschrift DieDrei und seit 2022 Verleger im Verlag Freies Geistesleben.
[1] www.schauspiel-stuttgart.de/spielplan/a-z/dieerziehung-des-rudolf-steiner/
[2] www.stadtpalais-stuttgart.de/ausstellungen/notmy-hero
[3] www.swr.de/swrkultur/kunst-und-ausstellung/
helden-canceln-not-my-hero-im-stadtpalais-stuttgart-ein-kluges-spiel-ueber-vorbilder-100.html
[4] www.ardaudiothek.de/episode/kultur-aktuell/
rudolf-steiner-der-rassist-ausstellung-not-my-herokratzt-am-glanz-stuttgarter-heldensagen/swr-kultur/13299859/
[5] www.schauspiel-stuttgart.de/spielplan/a-z/dieerziehung-des-rudolf-steiner/dead-centre/
[6] www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.stueck-vondead-centre-am-schauspiel-stuttgart-und-aus-demkind-spricht-ein-sehr-alter-mann-rudolf-steiner.
e5a79867-a4b5-4018-aeeb-c711669a4e23.html
[7]taz.de/Theaterstueck-ueber-Maennervon-gestern/!6042270/
[8] Vgl. Oliver Nachtwey & Carolin Amlinger: ›Gekränkte Freiheit – Aspekte des libertären Autoritarismus‹, Berlin 2022.
[9] www.deutschlandfunkkultur.de/stuttgarter-urauffuehrung-die-erziehung-des-rudolf-steiner-vondead-centre-dlf-kultur-435f848b-100.html
[10] www.stimme.de/freizeit/kultur/alles-verloreneseelen-oder-was-art-4975625
[11] www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/anthroposophie-theater-rudolf-steiners-seltsame-seiten-110046080.html