Sind wir den Herausforderungen der Zeit gewachsen? Generalversammlung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft
Auf der Generalversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft in Dornach trafen sich Menschen aus 37 Landesgesellschaften der ganzen Welt, beispielsweise aus den USA, Kanada, Mexiko, Australien, Neuseeland, Italien, Portugal, England, Frankreich, Island, Südafrika, Tansania, Korea, Finnland, Schweden, Dänemark, Norwegen, der Ukraine, Ungarn, den Niederlanden, Belgien, Österreich, der Schweiz und Deutschland. Von rund 40.000 Mitgliedern waren rund 230 in Dornach vertreten. Es war eine bunte, vielfältige Mischung unterschiedlichster Menschen.

In den vergangenen fünf Jahren, in denen ich an den Generalversammlungen teilnahm, wurden weniger die Fragen rund um den Globus ausgetauscht als vielmehr eine Flut von Anträgen aus der Schweiz und Deutschland bearbeitet. Ein immer wieder großen Raum einnehmendes Thema ist die sogenannte Konstitutionsfrage.
Bei dieser Frage geht es einerseits hauptsächlich darum, ob wir die Gesellschaftsform leben, die von Rudolf Steiner vor 100 Jahren gewollt wurde, und andererseits darum, ob es diejenige ist, die wir heute selber weiterhin leben möchten. Sehr unterschiedlich kann man auf eine so einfach scheinende Frage schauen. Der ganze Facettenreichtum menschlicher Ausdrucksweisen wird an dieser Stelle sichtbar.
Der Vorstand am Goetheanum hat im Verlaufe der letzten Jahre gelernt, wie man eine Versammlung, auf der die unterschiedlichsten Bedürfnisse wahrgenommen sein wollen, so vorbereitet und durchführt, dass möglichst wenige Gesichtsverluste entstehen und alle Gehör finden, die es möchten. Dafür sind bestimmte Vorgaben notwendig, nach denen man sich richtet. So gibt es mittlerweile Regeln, die klarstellen, was ein Antrag im Gegensatz zu einem Anliegen ist. Ebenso ist geregelt, bis wann ein Antrag oder Anliegen vorliegen muss und dass nicht jeder Antrag seinen Weg in den großen Saal des Goetheanums findet, weil er bestimmte verabredete Vorgaben nicht erfüllt.
Auf der Versammlung selber werden die Anträge vorgestellt, beraten und entschieden. Die Vorstellungen dürfen nicht länger als 10 Minuten in Anspruch nehmen; Wortbeiträge während der Debatte dürfen nicht länger als 3 Minuten dauern. Jeweils 1 Minute vor Ablauf der Zeit ertönt das erste Glöckchen, am Ende der Redezeit eine andere Glocke. Angesichts dieser strengen Vorgehensweise begehrt die Autonome in mir zwar auf, aber ich muss zugeben, dass so die vorliegenden Anträge (zum Glück deutlich weniger als in den vergangenen Jahren) bearbeitet und entschieden werden konnten.
Zeigt die Antragsbearbeitung die Unwuchten in der Gesellschaft, so konnten durch drei sehr unterschiedliche Totengedenken die in der Gesellschaft lebenden Qualitäten, in sehr besonderer Art und Weise mit den Fragen der Schwelle zwischen materieller und geistiger Welt umgehen zu können, sichtbar werden.
Auch durch verschiedenste inhaltliche Kurzbeiträge, die das oben genannte Thema bearbeiteten, konnten die Qualitäten unserer Gesellschaft deutlich werden. Jeder und jede der Vortragenden stellte einen anderen Blick zur Verfügung. Aus der Gesamtheit aller Gesichtspunkte entstand eine zuversichtliche Aussicht auf die Zukunft. Eine Rednerin sagte zum Beispiel, dass es nicht mehr darauf ankäme, Ideen theoretisch zu bewegen, sondern durch Erlebnisse Geistiges konkret aneinander und miteinander zu begreifen. Jemand anderes sagte, mit Anthroposophie könne man Berge versetzen. Die Anthroposophie beinhalte das Potenzial, die Kultur der Menschheit zu verwandeln. Im Beitrag eines Landwirts kam zur Sprache, dass wir eine weltweite Bewegung sind und dennoch nicht vergessen dürften, dass jeder und jede von uns mit den jeweiligen lokalen Gegebenheiten zu tun hat (gutes Wetter/schlechtes Wetter etc.). Wir müssen also lernen, sowohl Zentralisation als auch Dezentralisation zu kultivieren. Noch jemand anderes sagte: „Wir müssen aufhören, darauf zu warten, dass uns jemand toll findet, und stattdessen damit anfangen, tolle Zeitgenossen zu werden!“
Für das kommende Jahr wünsche ich mir noch mehr Eindrücke aus aller Welt. An manchen Stellen wurden unterschiedliche Fähigkeiten und Blickwinkel auf das anthroposophische Leben anderer Länder sichtbar, sodass man eine Ahnung von den in uns lebenden Möglichkeiten bekommen konnte. Beispielsweise nahm erstmals die Landesvertreterin aus Tansania an der Generalversammlung teil.
Die Landesvertreterin aus Korea berichtete von der Gründung der koreanischen Landesgesellschaft zu Michaeli des vergangenen Jahres. Bewusst hätten sie die „Anthroposophische Gesellschaft in Korea“ gegründet, auch wenn im Moment der Kontakt nach Nordkorea abgeschnitten sei. Aus Australien wurde berichtet, dass es dort sehr positive Presseberichte über die Anthroposophie und die Anthroposophen gebe. Die Franzosen hingegen haben es diesbezüglich sehr schwer, entschieden sich aber trotzdem dafür, zuversichtlich weiterzuarbeiten. Aus England reiste ein engagierter Schatzmeister an und in Finnland fühlt man sich verbunden, obwohl die Menschen sehr weit auseinanderleben. Eine ukrainische Künstlerin wies daraufhin, welch ein Unterschied in der Qualität eines digitalen Bildes vorne an der Bühne im Gegensatz zu einer von Menschen gemalten Deckenmalerei des Saales besteht. Humorvoll wurden unterschiedliche Herangehensweisen in der Welt wie folgt beschrieben: Ein Finne fährt mit einem anderen Menschen im Fahrstuhl. Im 5. Stockwerk denkt er an die Möglichkeit, „Hallo“ zu sagen, verwirft diese Möglichkeit aber wieder und schweigt bis zum 10. Stockwerk. Steigen zwei Mexikaner in einen Fahrstuhl, dann ist die Lebensgeschichte des einen im 1. Stockwerk erzählt, die Lebensgeschichte des anderen im 2. Stockwerk. Im 3. Stockwerk steigen beide aus, obwohl sie bis zum 10. fahren wollten, weil alles gesagt wurde, was zu sagen ist.
Welch viele Fähigkeiten, Möglichkeiten, Blickwinkel und Herangehensweisen stehen uns durch unsere weltweite Bewegung zur Verfügung. Ich freue mich darauf, zu diesem bunten Blumenstrauß einerseits etwas beitragen zu versuchen und andererseits von ihm lernen und sein Erblühen beobachten zu können. In diesem Sinne schaue ich voller Zuversicht auf die Herausforderungen der Zukunft.
Christine Rüter