Perspektiven der Hochschule
Drei Fragen wollen die Verantwortlichen der zwölf Sektionen der Freien Hochschule am Goetheanum mit den Teilnehmenden der Pfingsttagung 2025 für jedes einzelne Sektionsfeld beantworten: Was sind die Inspirationen Rudolf Steiners? Was bringt jede Sektion in die Hochschule ein? Was leistet jede Sektion für unsere Zukunft? Wir haben im Vorfeld vier Fragen dazu gestellt: nach Schatten, Dämmerlicht, Licht und Menschlichkeit all dieser Gebiete.

Leitstern Welcher Gedanke Rudolf Steiners leitet dich?
Stolperstein Welcher anthroposophische Gedanke bleibt rätselhaft für dich?
Schatten Welchen Widerstand willst du erlösen? Menschsein Wie macht dein Sektionsfeld uns menschlicher?
Karin Michael Medizin
Leitstern Rudolf Steiner inspiriert uns, für die heutige Medizin eine neue Wissenschaft des Lebendigen zu entwickeln. Er schenkt uns den Begriff des Ätherleibes – als Rätsel, Wunder und Aufgabe für eine neue Heilkunst. Seine Hinweise auf das neue Ätherherz und die Verwandlung unserer Mitte, unseres Fühlens sind für mich Ausgangspunkt für eine Medizin der Wärme und der Zukunft. Mein Satz dazu: «Es ist von der allergrößten Bedeutung zu wissen, dass die gewöhnlichen Denkkräfte des Menschen die verfeinerten Gestaltungs- und Wachstumskräfte sind. Im Gestalten und Wachsen des menschlichen Organismus offenbart sich ein Geistiges. Denn dieses Geistige erscheint dann im Lebensverlaufe als die geistige Denkkraft.» (Kap. I, ‹Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst›, GA 27, Rudolf Steiner und Ita Wegman)
Stolperstein Wir haben noch so viele offene Forschungsfragen! Ein Gedanke gibt uns für jede Krankheit neue Rätsel auf, wenn es um vollständige Heilung geht: «Die Heilmittel müssen daher so beschaffen sein, dass sie nicht nur den Krankheitsprozess zurücklaufen lassen, sondern auch die sich herabstimmende Vitalität wieder unterstützen.» (Kap. XIX, ‹Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst›, GA 27, Rudolf Steiner und Ita Wegman)
Schatten Es sind bei uns zweierlei Doppelgänger, auf die uns Rudolf Steiner für die Medizin hinweist und die wir durch Heilermut und Erkenntnis erlösen müssen: «Denn dieser Doppelgänger, von dem ich gesprochen habe, der ist nichts mehr und nichts weniger als der Urheber aller physischen Krankheiten, die spontan aus dem Innern hervortreten, und ihn ganz kennen, ist organische Medizin. Die Krankheiten, die spontan, nicht durch äußere Verletzungen, sondern spontan von innen heraus im Menschen auftreten, sie kommen nicht aus der menschlichen Seele, sie kommen von diesem Wesen. Er ist der Urheber aller Krankheiten, die spontan aus dem Innern hervortreten; er ist der Urheber aller organischen Krankheiten. Und ein Bruder von ihm, der allerdings nicht ahrimanisch, sondern luziferisch geartet ist, der ist der Urheber aller neurasthenischen und neurotischen Krankheiten, aller Krankheiten, die eigentlich keine Krankheiten sind, die nur, wie man sagt, Nervenkrankheiten, hysterische Krankheiten und so weiter sind. So dass die Medizin geistig werden muss nach zwei Seiten hin.» (‹Individuelle Geistwesen und ihr Wirken in der Seele des Menschen›, GA 178, S. 61)
Menschsein Ich verdanke der Anthroposophie, einen höheren Sinn von Krankheit und Heilung ahnen zu können. Und sie gibt moralische Orientierung gerade an den schwierigen Grenzfragen und Schwellensituationen, mit denen wir in der Medizin zu tun haben.
Sonja Zausch, Jan Göschel und Bart Vanmechelen Heilpädagogik und inklusive soziale Entwicklung
Leitstern Es sind zwei Inspirationsquellen bei Rudolf Steiner, an die wir anknüpfen. Die eine ist der ‹Heilpädagogische Kurs›, in dem Rudolf Steiner das Verständnis von Menschsein und kindlicher Entwicklung in ein imaginatives Bild verdichtet, wie er es an kaum einer anderen Stelle tut. Daraus lässt sich verstehen, wie das Ich durch die Leiblichkeit mit der Welt in ein resonantes und selbstwirksames Verhältnis kommt und was es braucht, damit diese Beziehung, dieses ‹Embodiment›, gelingt. Das andere Motiv ist, dass sich die Zukunft schon in der Gegenwart als ‹Keim› ergreifen und gestalten lässt. Rudolf Steiner charakterisiert Qualitäten einer möglichen Gesellschaft der Zukunft, die ‹inklusiv› ist: die praktische Anteilnahme an der gelebten Wirklichkeit des anderen, der bedingungslose Respekt vor der Freiheit, Würde und Unantastbarkeit der Innenwelt des anderen, und ein gelebter Erkenntniszugang, der es ermöglicht, sich über alle Unterschiedlichkeit hinweg als Menschen zu verständigen, die an einer gemeinsamen Wirklichkeit teilhaben. Wie setzen wir diese Qualitäten um? Es verlangt Geistesgegenwart, um – wie Rudolf Steiner es formuliert – zu erkennen, worum es im Wesentlichen geht: eine tiefere Einsicht zu bekommen und mutig das umzusetzen, was für den Menschen vor mir hilfreich ist. Dies erfordert Schulung der inneren Wahrnehmung, die über die eigene Erfahrung hinausgeht, sowie innere Freiheit, Handlungsmuster zu verändern! Im Sinne der Grundsteinmeditation erhält der anthroposophische Schulungsweg dadurch Anwendung.
Jan Göschel: Mein Lieblingssatz aus dem ‹Heilpädagogischen Kurs› (GA 317, S. 43) ist im Moment: «Aber wenn man zum Wirken aus dem Geistigen kommt, muss man sich täglich, stündlich vor Entscheidungen gestellt fühlen, bei jeder Tat sich vor die Möglichkeit gestellt fühlen, sie tun zu können oder unterlassen zu können, oder sich völlig neutral verhalten zu können.» Wir stehen vor der Aufgabe, in der individuellen und sozialen Entwicklung, in das, was aus der Vergangenheit «fort trollt» (wie es Steiner formuliert), neue gestalterische Impulse zu setzen, Öffnungen für die Keime der Zukunft zu schaffen. Dazu haben wir diese drei Möglichkeiten, wenn wir präsent sind. Am interessantesten ist für mich die dritte: Was heißt es, sich für das noch Unbekannte, Neue zu öffnen, sich innerlich «neutral» zu verhalten, nicht passiv, sondern mit dem Mut, zuzulassen, was kommt, um es dann (mit-)gestaltend zu ergreifen?
Bart Vanmechelen: Mein Lieblingsthema im Kurs ist die Punkt-KreisMeditation, die zur täglichen Übung geworden ist. Sie eröffnet die Möglichkeit, in jeder Begegnung und jedem Unterrichtsmoment neue Inspiration und Intuition zu entdecken, um etwas zu lernen oder miteinander zu üben.
Sonja Zausch: Diese beiden Motive kommen für mich in der ‹Andacht zum Kleinen› zusammen. Die Situation, in der wir gerade sind, den Menschen als wahrhaftig zu sehen und ernst zu nehmen, um so mit meinem
Mitmenschen in einen Dialog treten zu können. Das wahrzunehmen, was mir im Moment angeboten wird, und die Wirkung sich entfalten zu lassen – damit kann sich ein ‹Wirkkreis› entfalten.
Stolperstein Rudolf Steiner charakterisiert die Heilpädagogik als «Eingreifen ins Karma». Die Frage, welches Verständnis von «Karma» hier gemeint ist und was es mit «Eingreifen» auf sich hat, wurde bisher zu wenig bearbeitet. Dieser Gedanke ist sicher oft als Zumutung erlebt worden. Jedoch kann man hier viel Zukunftspotenzial sehen, wenn wir uns vertieft damit beschäftigen. Denn «Karma» meint bei Steiner etwas ganz anderes als das populäre Verständnis davon. Es geht darum, den dynamischen Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart so zu greifen, dass wir da unsere gestalterische Potenz entfalten können. Es geht darum, dass jeder Mensch ein neues Rätsel ist. Wir entdecken, wie wir es im einzelnen Fall machen können, wenn wir uns mit der Wesenheit des anderen verbinden. Rudolf Steiner: «Es ist eine unbequeme Arbeit, aber sie ist die einzig reale. Daher handelt es sich im Sinne dieser Geisteswissenschaft so stark darum, dass wir gerade als Erzieher im allereminentesten Sinne Selbsterziehung pflegen.»
Schatten Der Doppelgänger unseres Sektionsfeldes ist eng verwandt mit dem Doppelgänger der Berufsfelder, in denen wir uns bewegen. Überall, wo es um die Begleitung von Menschen in vulnerablen Situationen geht, wo Abhängigkeitsverhältnisse und Machtdifferenzen vorliegen, sind wir mit der Möglichkeit von Grenzverletzungen, Gewalt und Missbrauch konfrontiert. Hierfür ist in den letzten Jahrzehnten viel Bewusstsein entstanden. Als Fachpersonen mit anthroposophischem Menschenverständnis sollten wir Vorreiter im Umgang mit diesen Doppelgänger-Fragen sein. Diesem Anspruch sind wir sicher nicht immer gerecht geworden. Umso mehr ist jetzt ein guter Moment, unsere Umgangsfähigkeit mit den Schattenaspekten begleitender Professionalität verstärkt zu entwickeln. Dabei sollten wir auf die Ansätze zurückgreifen, die sich allgemein in unserem Berufsfeld entwickelt haben. Gleichzeitig haben wir auch die Aufgabe, die Vertiefungsmöglichkeiten, die sich aus der anthroposophischen Perspektive auf Selbsterkenntnis und innere Entwicklung, auf die Dynamik des ‹Doppelgängers› in zwischenmenschlichen Prozessen und Organisationsstrukturen ergeben, auszuarbeiten und methodisch für die Praxis fruchtbar zu machen. Persönlich werden wir im Arbeitsalltag mit unseren Unvollkommenheiten oder unbewusst gelebten Aspekten konfrontiert. Diese können mich daran hindern, dem Menschen, den ich begleite, respektvoll und auf Augenhöhe zu begegnen. Ich kann in Dankbarkeit annehmen, was ich lernen kann, um freier und kreativer zu sein. Sowohl Ernsthaftigkeit und Tiefe als auch Humor und Spiel sind wichtig, um jedes Mal ein neues Gleichgewicht entstehen zu lassen.
Menschsein Das ‹für alle› ist ein zentrales Anliegen unseres Sektionsfeldes: Wie kann Partizipation in der Gesellschaft für alle möglich werden? Aus der spirituellen Perspektive kommen wir dabei auf die Kernfragen der individuellen Entwicklung und der sozialen Transformation hin zu einer Gesellschaft und zu Gemeinschaftsformen der Zukunft zurück: Wie lassen sich größtmögliche Differenz des individuellen Entwicklungswegs und gemeinschaftliche Zugehörigkeit und Solidarität vereinbaren? Solche scheinbaren Widersprüche in Einklang zu bringen, fordert eine spirituelle Perspektive, denn aus einem äußeren Zugang lassen sich diese Paradoxe nicht lösen. Wir alle lernen, wir selbst zu werden, indem wir uns mit anderen verbinden, mit denen, die vor uns da waren, mit den Menschen um uns herum und mit der neuen Generation, der wir allmählich unseren Planeten, unsere Kultur und unsere Weisheit weitergeben. Staunen zu können für das rätselhafte Anderssein, bedeutet, lernen zu wollen, anstatt zu wissen. Empathie und Interesse schaffen einen Raum, in dem andere ihr Entwicklungspotenzial zeigen können. Durch eine enthusiastische Zusammenarbeit können wir unsere Ideale für eine menschenwürdige Zukunft verwirklichen.
Pieter van der Ree Bildende Künste
Leitstern Formen aus dem Inneren, dem Inhalt zu gestalten, damit Geistiges daran erlebbar werden kann, inneres Leben angeregt wird und Zusammenhänge erlebbar werden, das hat in einer ‹Bildkultur› von heute an Aktualität gewonnen. Der Ratschlag Steiners: Man frage sich, was geschieht, was in dem zukünftigen Bau geschehen soll, und gestalte daraus.
Stolperstein Die moralische Wirkung von Formen, wie sie zu Gesetzgebern werden können.
Schatten Man entwirft zunächst aus Gewohnheiten, in Anknüpfung an das, was man schon früher gestaltet hat. Das muss jedes Mal überstiegen und überwunden werden, damit etwas Neues entstehen kann. Der Schatten der Kunst- und Architekturimpulse ist die Gefahr einer Stilbildung im Bauen und in der Kunst.
Menschsein Das Leben wird dadurch zum Abenteuer, dass ich mich an meinen Aufgaben entwickeln kann, damit auch andere sich daran entwickeln können.
Yaike Dunselman Bildende Künste
Leitstern Das Leben – oder Überleben – auf unserer Erde hängt davon ab, wie wir Menschen mit der Zerbrechlichkeit unserer Erde umgehen. Für meine Architektur ist dieses Bewusstsein wesentlich. Der technische Weg der vergangenen Jahrhunderte scheint ein Weg der Entfremdung des Menschen von der Erde zu sein, ein Weg ‹weg von der Erde›. Ich möchte mit einer inneren und äußeren Haltung zu einer Zukunft beitragen, die sich mit dem Organismus Erde verbindet. Es ist ein individueller Weg, ein ‹Weg zur Erde›, ein Weg, der nur mit einem spirituellen Bewusstsein für den empfindlichen, zerbrechlichen lebenden Organismus ‹Erde› gegangen werden kann.
Alles wird technisch, alles wird fest, alles ist bis ins Letzte festgelegt. Es ist so kompliziert geworden, dass wir nicht mehr verstehen, dass wir keinen Ausweg mehr finden. In dem Moment taucht für uns die künstliche Intelligenz (KI) auf! Wenn ich da hinschaue, wird mir klar: KI scheint (ist!) kein Werkzeug, sondern eine Entität, die Entscheidungen trifft! Da trifft es uns Menschen, in dem Moment, wo viele sich durch eine komplizierte, verfestigte Wirklichkeit zurückziehen. KI ist keine technische Herausforderung, sondern eine kulturelle und moralische Entscheidung des Menschseins! Das macht für mich die Arbeit in der Sektion so wichtig. Es geht darum, das menschliche, kreative Potenzial in jedem ansprechen, es geht darum, es im Bewusstsein zu tragen und dafür kämpfen! – Überall das Gerade in das Gebogene überführen, Gleichgewicht suchen, überall den Versuch machen, das Erstarrende wieder in Flüssiges aufzulösen, überall Ruhe in der Bewegung schaffen, aber die Ruhe wiederum in die Bewegung versetzen.
Ariane Eichenberg Schöne Wissenschaften
Leitstern Rudolf Steiner zeigt einen Weg auf, wie Wissenschaft zu Kunst werden kann. Damit wird die Wissenschaft zugleich in die Geisteswissenschaft überführt und ein imaginatives, inspiratives und intuitives Erkennen ermöglicht. «Ja, der Mensch ist auf der Erde, weil die Götter den Menschen brauchen, dass in ihm gedacht, gefühlt, gewollt werde, was im Kosmos lebt.» (GA 276, 8. Juni 1923, S. 88)
Stolperstein In dem Brief an die Mitglieder vom 2. November 1924 schreibt Rudolf Steiner, dass die Anthroposophie neben der Sprache der Naturwissenschaft eine andere Sprache sprechen möchte, und er nennt diese andere Sprache die ‹Christus-Michael-Sprache›. Ein Silberstreif zeigt sich hier am Horizont – aber das volle Licht bleibt noch verborgen.
Schatten Die Doppelgänger sitzen in der computergenerierten Sprache und Sprachanwendung. Diese Techniken zu begreifen und ihnen ihren Platz in der zukünftigen Entwicklung zuzuweisen, käme einer Erlösung gleich.
Menschsein Die Schönen Wissenschaften stellen keine Berufsgruppe dar. Das Gefühl der Zugehörigkeit erfolgt aus freier Entscheidung. Von daher verweisen die Schönen Wissenschaften auf ein zukünftiges Ideal: auf den aus Freiheit handelnden Menschen.
Christiane Haid
Bildende Künste, Schöne Wissenschaften
Leitstern Der Brückenbau zwischen Wissenschaft und Kunst und die Anregung, die Werke der schöpferischen Fantasie in den Blick zu nehmen, ist nach 100 Jahren aktueller den je. Angesichts der Behauptung, KI könne Kunst machen, Texte schreiben, wird es essenziell sein, das Schöpferische des Menschen als eine genuin menschliche und nicht maschinell imitierbare Eigenleistung zu erfassen und zu würdigen. Davon hängt ab, in welcher Welt wir in Zukunft leben werden, mit welcher Sprache wir kommunizieren und damit auch mit welchen Wesen wir uns verbinden werden. –
«Ideenerfüllt erlebt die Seele Geistes-Licht, wenn der Sinnenschein nur wie Erinnerung in dem Menschen nachklingt.» (GA 26, 8. März 1925)
Stolperstein Eine Herausforderung ist, dass das Feld der Schönen Wissenschaften unterschätzt und als eine Sektion, die allein für Albert Steffen geschaffen wurde, missverstanden wird. Dann unterbleibt der eigentliche Auftrag, ein neues Wissenschaftsparadigma zu formulieren, das die Wissenschaft an die Kunst annähert und die Kunst mit Erkenntniskräften durchdringt, ohne sie zu töten. Künstlerische Verfahrensweisen bringen die notwendige Belebung und Konkretisierung aller anderen Arbeitsgebiete und weisen das Übermaß an Technik in die notwendigen Schranken. So wird der Raum des Menschen wachgerufen und geschützt.
Schatten Der Doppelgänger ist in der Unterschätzung von Kreativität und Freiheit wirksam und sitzt der Bequemlichkeit auf, ohne Anstrengung zum Ergebnis zu kommen. Wenn man zum Beispiel die Mühen scheut, sich einen Text von Rudolf Steiner zu erarbeiten, und man stattdessen lieber eine Übersetzung in einfacher Sprache genießen will, dann verpasst man die innere Botschaft und Anforderung der Geisteswissenschaft, dem Menschen die Gelegenheit zu geben, sich über sich selbst zu erheben. Das mag altmodisch klingen, ist aber auch nach 100 Jahren eine reale Erfahrung.
Menschsein Literatur, Sprache, Geschichte, Ästhetik und Philosophie sind menschliche Schöpfungen und ermöglichen Selbstbegegnung und Selbsterkenntnis. Zur Entfaltung dieser Kraft braucht es Menschen, die bereit sind, innere und äußere Grenzen zu überschreiten und den Raum des Geistes zu erobern. Das können Maschinen nicht. Ob diese schöpferische Welt des Menschen auch in Zukunft erhalten bleibt, hängt davon ab, dass sie in ihrer Bedeutung wahrgenommen, gepflegt und gefördert wird.
Zukünftig suche ich für den Austausch und die Vermittlung nach Formen des Sprechens und Schreibens. Der Ausgangspunkt sollte dabei in persönlichen Erlebnissen liegen, Erlebnisse, die paradigmatischen Charakter haben und ins Geistige führen. Das erfordert Wachheit im Erleben und in der Verarbeitung von Erlebnissen sowie eine Kunst der Darstellung, die geistige Kraft evoziert.
Matthias Rang und Vesna Forštnerič Lesjak Naturwissenschaft
Leitstern Uns leitet die Auflösung des Gegensatzes zwischen einem spirituellen und einem wissenschaftlichen Weltzugang. Es ist eine wunderbare Inspiration, auch wenn wir in ihrer Umsetzung noch viel zu tun haben. Insbesondere die Erweiterung der Naturwissenschaft in das Ätherische ist eine Aufgabe, an der wir seit 100 Jahren arbeiten. Viel ist gelungen, aber wir sind einfach nicht genügend Menschen, um mehr Fahrt aufnehmen zu können. Die Naturwissenschaft bildet auch die Brücke zur Medizin. Da ist unsere Aufgabe, die Grenzen der Materie zu erkennen, wie auch die Grenzen der Methoden, die wir dabei anwenden. Die goetheanisch erweiterte Naturwissenschaft ermöglicht, die Wirkung der Heilmittel aus dem Prozess der Natursubstanz sowie deren Umwandlung durch pharmazeutische Verarbeitung ganzheitlich und wesensgemäß zu erklären.
Leitstern ist der Untertitel der ‹Philosophie der Freiheit›: ‹Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode›. Er formuliert von der anderen Seite, wie die Überwindung der Dichotomie zwischen Naturwissenschaft und klassischer Geisteswissenschaft geübt werden kann. Im Umgang mit inneren Erfahrungen lernen wir vom klaren, beobachtungsbasierten Vorgehen der Naturforscher und -forscherinnen. Dies hilft ebenfalls – wie die Erweiterung der Naturwissenschaft in den Bereich des Ätherischen –, die spirituelle Erkenntnis mit den Errungenschaften der Bewusstseinsentwicklung durch die naturwissenschaftlichen Ansätze zu verbinden.
Auch Goethe bleibt unsere Inspirationsquelle, auch wenn Steiner selbst sagte, dass bei ihm überall nur Ansätze zu finden sind und dass wir ihn weiterentwickeln müssen. An verschiedenen Stellen steht dann dabei: «davon hängt unermesslich viel ab». Trotzdem ist Goethes Methode in der Forschung ein Leitstern für uns, zum Beispiel wie folgt: «Man suche nur nichts hinter den Phänomenen, sie selbst sind die Lehre.[1]» Goethe versuchte, die Naturerscheinungen der Welt, seien es Farben aus der anorganischen Natur, seien es lebendige Wesen, so in ihrer Entfaltung zu verfolgen, dass sie selbst ihre Idee aussprechen, also dass sie durch das Hervorbringen von Phänomenen ihre innere Natur darstellen und offenbaren.
Stolperstein Rudolf Steiners Aussagen und Ausführungen sind für uns fast alle rätselhaft, fast alle Forschungsfragen geblieben. Als Naturforscherinnen und -forscher sind wir daran gewöhnt und sehen darin eine große und willkommene Herausforderung. Ein Beispiel ist die Frage nach den Substanzen im menschlichen Organismus. Rudolf Steiner weist darauf hin, dass diese im Organismus andersartig sind, anders wirken als außerhalb des Organismus, sich selbst ätherisieren. Dies ist mit den Methoden der Naturwissenschaft kaum beobachtbar, weil diese Methoden Substanzen in der Regel isolieren – schon im Denken der Substanzen isolieren wir diese durch den naturwissenschaftlichen Zugriff. Die größten Fragen bleiben: Was ist Materie mit all ihren Äußerungen? Was ist das Leben, was ist ein Organismus, was ist das Bewusstsein und was der Geist? Wie wurden die Erde und der Kosmos entwickelt? Man merkt, das sind menschliche, existenzielle Fragen. Sie werden uns bis zum Ende der Erdentwicklung begleiten.
Schatten Wir denken Substanzen oftmals so materiell, dass uns bereits unsere Gedanken im Materiellen festhalten – das scheint nur auf den ersten Blick ein Widerspruch. Es ist nicht leicht, zu bemerken, welche Ergebnisse bereits durch unser Vorverständnis festgelegt werden und mehr unsere geistige Konstitution beschreiben als das untersuchte Wesen. Es ist eine Illusion, zu glauben, wir könnten Naturerkenntnis unabhängig von unserer geistigen Konstitution betreiben. Im Goetheanismus versuchen wir daher, uns auch die seelischen Beobachtungen gegenüber einem Wesen bewusst zu machen. Wir üben, diese von der Art zu unterscheiden, wie sich das Wesen selbst in mir ausspricht.
Es gibt auch einen Doppelgänger auf der anderen Seite, polar zum Festwerden unserer Gedanken in der Materie: das Verachten der Materie, das Verachten der Sinneswelt. Damit ist eine Menge von weiteren Eigenschaften verbunden: ‹es besser zu wissen›, zu schnell zu Ergebnissen zu kommen, die gute wissenschaftliche Praxis in Austausch und Nachvollziehbarkeit der Phänomene zu vergessen und dabei die Bescheidenheit, Offenheit und Geduld in der Forschung zu verlieren.
Menschsein Wie macht die spirituelle Beschäftigung auf dem jeweiligen Sektionsfeld uns alle zum Menschen, was bringt es, spirituell den Arzt, die Landwirtin, den Künstler, die Lehrerin, den Forscher usw. in mir zu wecken? Man kann eine Menge wissen. Aber in der goetheanistischen Naturwissenschaft, wenn man etwa eine Pflanze über Monate, vielleicht Jahre beobachtet, bildet man ein Verhältnis zu dieser aus. Heute haben nur noch wenige Menschen ein gelebtes Naturverhältnis – und die Folgen können wir verschiedentlich erfahren. Jeder Mensch kann ein gelebtes Naturverhältnis in sich aufbauen und pflegen. Deswegen ist der Goetheanismus, wie es Rudolf Steiner beschreibt ein entscheidender Kulturimpuls.
Veranstaltung
Die Freie Hochschule der Sektionen
Rudolf Steiners geistige Impulse für eine Zivilisation der Zukunft Pfingsttagung vom 6. bis 9. Juni 2025 im Goetheanum
Titelbild Treppenhaus im Goetheanum, Foto: Xue Li
[1] . J. W. von Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre. 2. Buch, 11. Kapitel, Cotta’sche Buchhandlung, Stuttgart 1829, Ausgabe letzter Hand.