30. Jubiläum der Freiwilligendienste
Seit über 40 Jahren setzen sich die Freunde der Erziehungskunst für waldorf- und anthroposophische Einrichtungen weltweit ein. Nun feierte Ende September der Bereich Freiwilligendienste sein 30. Jubiläum! Seit 30 Jahren begleiten die Freunde Waldorf, wie der Bereich in Karlsruhe heute heißt, junge Menschen partnerschaftlich in ihrem Freiwilligendienst. Mit über 1.000 Einsatzstellen in Deutschland und weltweit sowie rund 1.500 Freiwilligen pro Jahr zählen sie zu den größten Trägern Deutschlands.
Als Träger für Freiwilligendienste sind die Freunde Waldorf die Verbindung zwischen Freiwilligen und ihren Einsatzstellen. Sie sorgen also dafür, dass alles rundläuft: von der ersten Orientierung und Bewerbung über die Begleitung der Dienste bis hin zur Ehemaligenarbeit. Mit ihren waldorfpädagogischen und ökologisch engagierten Partnereinrichtungen wird der Dienst zu einem Jahr voller sinnstiftender Arbeit und bereichernder Erfahrungen. Ihre Motivation dabei: Gesellschaft und Zukunft gemeinsam positiv zu gestalten. Im Gespräch mit Susanna Rech-Bigot, Vorstandsmitglied, stellte Olivia Girard die Fragen.
Olivia Girard: Ihr habt Ende September Euer 30. Jubiläum gefeiert. Wer kam da zusammen?
Susanna Rech-Bigot: Wir waren über die drei Tage verteilt insgesamt 250 Menschen. Es kamen ehemalige Freiwillige aus allen Generationen. Es war sehr berührend, zu sehen, wie sich Menschen, die vor 25 oder 30 Jahren einen Freiwilligendienst mit den Freunden gemacht haben, immer noch verbunden fühlen – einer war sogar aus Dubai angereist. Ganz „frische“ Ehemalige konnten erleben, wie lange diese Erfahrungen aus dem Jahr nachwirken und lebensprägend sind. Es kamen Menschen aus unseren Einsatzstellen in Deutschland und weltweit, wir hatten Gäste aus Spanien, Brasilien, Peru, Kolumbien, Indien, Sri Lanka, Thailand, Südafrika und Deutschland. Der Austausch untereinander wurde als ermutigend und wertschätzend erlebt. Weitere Gästen waren natürlich die Mitarbeitenden und ehemaligen Mitarbeitenden der Freunde der Erziehungskunst, die über die Jahre dazu beigetragen haben, dass der Bereich der Freiwilligendienste so groß werden konnte. Und natürlich gab es auch viele Menschen von befreundeten Stiftungen, anderen Trägerorganisationen, aus Politik, Verbänden und Zentralstellen, die es sich nicht nehmen ließen, an den Jubiläumsfeierlichkeiten teilzunehmen. Schön, dass auch die AGiD durch Matthias Niedermann und Sebastian Knust, zwei unserer Ehemaligen, vertreten war.
Kurz: Es ist eine sehr besondere Gemeinschaft entstanden von Menschen, die zusammen gefeiert, Erinnerungen ausgetauscht und um Zukunftsideen gerungen haben. Am Ende waren sich alle darüber einig, dass sie aus dieser Begegnung Mut für ihren Alltag schöpfen – und was kann man aus einer Veranstaltung an Michaeli Schöneres mitnehmen?
OG: Wie hat das Ganze vor 30 Jahren begonnen? Wer war der erste Freiwillige?
SRB: Begonnen hat das Ganze mit einer Frage. Rasmus Precht kam damals auf Bernd Ruf zu und fragte, ob die Freunde nicht die Trägerschaft für seinen Anderen Dienst im Ausland (Ersatzdienst nach dem § 14b Zivildienstgesetz) übernehmen könnten. Die Frage wurde mit Ja beantwortet, die Trägerschaft beantragt und so konnte Rasmus Precht Anfang 1994 nach Südafrika ausreisen, um in der Camphill School Hermanus seinen Freiwilligendienst zu absolvieren. In den ersten Jahren waren es vor allem junge Männer, die über dieses Dienstformat ihren Wehrersatzdienst ableisteten. Später kamen auch junge Frauen dazu, zunächst privatrechtlich entsendet, und seit 2008 wurde mit dem Weltwärts-Programm dann ein Förderprogramm für Männer und Frauen eingeführt. Mit der Aussetzung der Wehrpflicht und der Einführung des Bundesfreiwilligendienstes 2011 kehrte sich das Verhältnis von Männern und Frauen endgültig um. Das Incoming-Programm, also der Reverse-Dienst, in dem Menschen aus aller Welt einen Freiwilligendienst in Deutschland absolvieren, kam 2006 dazu, weil es uns immer wichtig war, dass es keine One-Way-Veranstaltung bleibt.
OG: Die Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V. blicken auf eine langjährige Geschichte von Unterstützung und Partnerschaft der weltweiten Waldorf- und anthroposophischen Bewegung und spielen bei der Entwicklung unzähliger Einrichtungen eine wesentliche Rolle. Welche Rolle spielt der Freiwilligendienst für die Entwicklung einer Einrichtung oder, wie Ihr es nennt, Einsatzstelle?
SRB: Die Freiwilligen sind ja in verschiedenen anthroposophischen und waldorfpädagogischen Kontexten aktiv: in Waldorfkindergärten und Early-Childhood-Einrichtungen, in Waldorfschulen und in der Hortbetreuung, in sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaften und heilpädagogischen Schulen, in der biodynamischen Landwirtschaft und in sozialen Einrichtungen, die sich um marginalisierte Gruppen kümmern. Freiwillige tragen einen wichtigen Teil zur sozialen Realität der Einrichtungen bei, weil sie eine Rolle einnehmen, die oft zwischen den Mitarbeitenden und den zu betreuenden Menschen angesiedelt ist. Sie sind keine gelernten Fachkräfte, sie sorgen für ein zusätzliches Angebot, eine unterstützende Tätigkeit und bringen einen frischen Blick und manchmal auch kritische Fragen mit. Aber vor allem sind sie auch Lernende auf verschiedenen Ebenen: zwischenmenschliche Begegnung, interkulturelle Kommunikation, Alltagstauglichkeit, erste Erfahrungen in einer Arbeitswelt usw. Sie sind eine zusätzliche ideelle und personelle Ressource für die Einsatzstellen und manchmal auch eine zusätzliche Person, um die man sich kümmern muss, vor allem zu Beginn des Dienstes.
OG: Was kann ein junger Mensch in einem Auslandsjahr für Erfahrungen sammeln?
SRB: Wie oben schon angedeutet, geht es für viele erst mal darum, in einen neuen Arbeitsbereich einzutauchen, zum ersten Mal von zu Hause weg zu sein, allein zu wohnen, für viele ist es das erste Mal in einem professionellen Kontext, im Ausland, fernab der Familie.
Freiwillige können in den praktischen Tätigkeiten im sozialen oder im ökologischen Bereich Selbstwirksamkeitserfahrung sammeln. Sie werden selbstständiger, übernehmen Verantwortung für sich und andere, suchen Sinn, entwickeln Fragen an sich selbst und die Welt. Sie finden heraus, was sie später beruflich machen wollen, oder sie stellen fest, was sie nicht machen wollen. Sie lernen sich selbst besser kennen und forschen nach ihrer Lebensaufgabe, bringen sich ein und hinterlassen Spuren. Sie lernen eine neue Sprache und wie man mit Konflikten umgeht. Setzen sich mit entwicklungspolitischen und gesellschaftsrelevanten Themen auseinander. Interessieren sich für die Politik ihres Gastlandes, machen Naturerfahrungen, beschäftigen sich mit Nachhaltigkeit, arbeiten zum ersten Mal mit Menschen mit Behinderung, lernen die Waldorfpädagogik kennen, gewinnen Zuversicht. Sie machen eine zutiefst menschliche Erfahrung in einer immer herausfordernder werdenden Welt, die von Schnelllebigkeit, Krieg und Krisen geprägt ist.
OG: Welche Visionen haben die Freunde für die Zukunft der Freiwilligendienste?
SRB: Eine unserer langfristigen Visionen ist, dass alle jungen Menschen, die einen solchen Freiwilligendienst machen wollen, es auch können. Wir arbeiten derzeit auf politischer Ebene zu diesen Rahmenbedingungen.[1] Aber auch auf geistig-seelischer Ebene gibt es die Vision und den Wunsch, dass wir durch das Format Freiwilligendienste in der Welt einen Unterschied machen, dass Menschen sich in ihrem tiefsten Menschsein über alles Ausgrenzende hinweg begegnen und dass dadurch ein echter Friedensimpuls in die Welt getragen wird.
OG: Was versteht Ihr unter Anthroposophie und warum ist sie für Eure Arbeit wichtig?
SRB: Die Anthroposophie ist die Grundlage unserer Arbeit. Ganz konkret wird sie auch in unserer Arbeit lebendig: in der Art, wie wir auf die Menschen schauen, wie wir sie begleiten, wie wir unsere internen Strukturen organisieren, wie wir unsere Seminare gestalten. Wir gehen davon aus, dass der Mensch ein Wesen ist, das sich zur Freiheit entwickelt, dass es einen geistigen Wesenskern gibt, der jedem Menschen innewohnt und der wiedergeboren werden kann. Allein die Annahme, dass es so sein könnte, hat natürlich schon enorme Konsequenzen für unsere pädagogische Arbeit. Im Alltag in den Arbeitsbereichen unserer Einsatzstellen begegnen die Freiwilligen der angewandten Anthroposophie in all ihren Ausprägungen. Ich persönlich spreche auch gerne von der Schatzkiste, aus der wir immer wieder schöpfen dürfen, um unsere Arbeit einzubetten und zu nähren.
OG: Was ist deine persönliche Beziehung zur Anthroposophie?
SRB: Die Waldorfpädagogik ist mir während des Studiums begegnet und hat mich sofort begeistert. Mit Anfang dreißig habe ich festgestellt, dass ich in der Anthroposophie Antworten auf meine Lebensfragen finde.
OG: Danke für das Interview.
Susanna Rech-Bigot: geboren 1978 in Saarbrücken, dort auch zur Schule gegangen, 1997/1998 Freiwilligendienst in Frankreich, 1998–2004 Studium der Romanistik und Erziehungswissenschaft in Freiburg und Toulouse, 2004 erste Tätigkeit für die Freunde der Erziehungskunst: Erstellung eines Seminarkonzepts für die Freunde und Durchführung von Vorbereitungsseminaren als externe Seminarleitung, seit 2009 fest angestellt bei den Freunden, zuerst in der Ehemaligenarbeit, dann in den Partnerkontakten, dann in der pädagogischen Begleitung, als Bereichsleitung und seit 2022 im Vorstand. Verheiratet, 2 Kinder.
[1] Vision für eine Kultur selbstverständlicher Freiwilligkeit, Vision 2023 Freiwilligendienste 2030, www.rechtauffreiwilligendienst.de