Forum Zukunft Waldorfschule
Das Forum Zukunft Waldorfschule (FZW) setzt sich für eine zukunftsweisende Pädagogik ein und hat das Anliegen, die Anthroposophie als den lebendigen Kern der Waldorfpädagogik zu pflegen. Das FZW wurde 2018 gegründet mit dem Ziel, jungen Menschen, die in den kommenden Jahrzehnten die waldorfpädagogische Landschaft gestalten werden, in einen Austausch und eine Zusammenarbeit zu bringen, damit sie mit neuen Ideen Kraft und Mut schöpfen können für die Herausforderungen des Berufsalltags. Ein Gespräch mit Alexandra Lenhardt und Clio Bertelli Motta, Mitglieder des FZW, die Fragen stellte Olivia Girard.
Olivia Girard: Ihr gehört zum Organisationsteam, das aus jungen Waldorflehrerinnen und Waldorflehrern besteht. Oft ist der Berufseinstieg als Waldorflehrerin oder Waldorflehrer nicht so einfach. Man ist mit einer komplexen Aufgabe konfrontiert, in der man autonom und verantwortlich ist, und gleichzeitig kommt man in einen lebendigen Organismus herein, in dem man sich erst mal zurechtfinden muss. Was hat Euch damals dazu bewegt, diese Initiative mitzugestalten?
Alexandra Lenhardt: Mich haben während meines Studiums bei Praktika schon immer Menschen fasziniert, die innerhalb ihrer Schule über den Tellerrand hinausblicken konnten. Sie fielen mir dadurch auf, dass ihr Unterricht gut war, sie außerdem in der Schule weitere Aufgaben übernahmen und bei all diesen Tätigkeiten selten krank wurden. Ich fragte mich, woher sie diese Kraft nahmen. Im Gespräch mit ihnen tauchte immer wieder der Begriff „Anthroposophie“ auf. Meine Annahme war, dass es möglich sein muss, einen inneren Weg zu gehen, mit dessen Hilfe man viele Aufgaben übernehmen kann, ohne sich selbst zu vernachlässigen. Mein Anliegen bei der Gründung der Initiative war es, mich mit Gleichaltrigen auf diesen Weg zu begeben.
Clio Bertelli Motta: Ich bin der Initiative beigetreten, noch bevor ich angefangen habe, in der Schule zu unterrichten. Der Entschluss, Waldorflehrerin zu werden, war aber schon da und fußte auf meiner Begegnung mit der Anthroposophie und dem Willen, sie in mein Berufsleben einfließen zu lassen. Als ich die Initiative kennenlernte, war es für mich fast eine Selbstverständlichkeit, mitgestalten zu wollen.
OG: Ihr habt inzwischen mehrere Tagungen veranstaltet und einiges bewegt. Wer sind die jungen Waldorflehrerinnen und Waldorflehrer, die zu Euch gekommen sind? Welche Fragen haben sie grundsätzlich mitgebracht? Kann man eine Art gemeinsame Fragestellung finden?
AL: Es kamen immer wieder junge Menschen mit unterschiedlichsten Fragestellungen zu den Foren. Auch ihre Berührung mit der Waldorfpädagogik war sehr verschieden ausgeprägt. Das Bedürfnis, das jedoch fast alle Teilnehmenden hatten, war einerseits, den Kontakt zu anderen jungen Waldorflehrerinnen und Waldorflehrern zu knüpfen, da sie an ihrer Schule oft mit Abstand die Jüngsten waren, auf der anderen Seite das nach spiritueller Nahrung. Sie berichteten davon, dass an ihren Schulen das Wort „Anthroposophie“ selten in den Mund genommen würde oder dass das Kollegium kaum (noch) mit Grundlagentexten von Rudolf Steiner arbeiten würde. Es kam mir so vor, als gäbe es die Annahme, dass Waldorfpädagogik ohne Anthroposophie gedacht werden könne.
CBM: Im Laufe der Jahre haben viele Menschen an unseren Tagungen teilgenommen. Jeder bringt natürlich Unterschiedliches mit. Wenn man aber nach Gemeinsamkeiten sucht, würde ich sagen, dass ich immer von der Offenheit und gleichzeitig von der Ernsthaftigkeit beeindruckt bin, die unsere Treffen prägen. Man kann jede Frage als solche gelten lassen, ohne den Drang nach einer sofortigen Antwort zu verspüren; es geht mehr um das gemeinsame Bewegen und Suchen. Die gemeinsame Kernfrage könnte man so ausdrücken: Wie kann man aus einem lebendigen Umgang mit der Anthroposophie eine zukunftsfähige Pädagogik entwickeln?
OG: Man kann in den Waldorfschulen bei jüngeren Waldorflehrerinnen und Waldorflehrern zunehmend eine intuitive Spiritualität erleben, aber oft wenig Kenntnis oder keinen Bezug zur Anthroposophie. Wie seht Ihr das?
AL: Ich denke, auch aus der Erfahrung mit dem FZW, dass ein großes Interesse bei jungen Menschen da ist, die Anthroposophie kennenzulernen. Sie wünschen sich, an ihren Schulen sehr konkret darüber zu sprechen und sich zu „bekennen“. Das ist jetzt vielleicht ein starkes Wort, aber ich habe den Eindruck, die jüngeren Generationen von Lehrerinnen und Lehrern wünschen sich Direktheit in Bezug auf spirituelle Wege. Sie wollen wissen, was die Grundlage dessen ist, was sie bereits spüren. Aber sie finden oft nicht genügend Kolleginnen und Kollegen, die sich ebenfalls darum bemühen. Deshalb sind viele Teilnehmende so begeistert von unseren Treffen.
CBM: Das ist eine sehr komplexe Frage. Ich erlebe, dass es durchaus junge Waldorflehrerinnen und Waldorflehrer gibt, die einen Bezug zur Anthroposophie haben, die aber damit in ihren Schulen oft vereinsamen und verzweifeln. Ein Ziel unserer Initiative ist es, einen Ort zu schaffen, an dem sich diese Menschen treffen und austauschen können. Ich denke, es ist aber durchaus so, dass der Umgang mit der Anthroposophie sich verwandelt hat. Steiner sagte selbst sinngemäß: „Ich will nicht verehrt werden, ich will verstanden werden.“ Ich hoffe, dass unsere Generation in diese Richtung einen Beitrag leisten kann.
OG:Euer nächstes Forum ist vom 6. bis 10. November 2024, veranstaltet im Schloss Buchenau unter dem Titel „Der Mensch und die Naturreiche“. Wie seid Ihr auf dieses Thema gekommen und was erwartet Ihr von diesem Treffen?
AL: Wir haben uns darüber Gedanken gemacht, welche Fragen die Zeit an uns stellt, und kamen darauf, dass es von verschiedenen Seiten immer wichtiger wird, was „der Mensch“ denn eigentlich ist? So planten wir fünf Treffen, in denen die Frage nach dem Menschen, oder dem Menschlichen, in verschiedenen Zusammenhängen einen roten Faden bildet. Im ersten Treffen ging es um die Frage, was wäre, wenn die Natur selbst eine Künstlerin wäre? Wie müsste man dann Natur betrachten und erforschen? Und wie kann man den Menschen von der Natur aus denken? In diesem Treffen wollen wir die Naturreiche dem Menschen gegenüberstellen und sie gleichzeitig im Menschen wiederfinden. Es folgen Treffen zu Mensch und Maschine, Mensch als Individuum und beim fünften Treffen wollen wir uns mit der Fähigkeit des schöpferischen Menschen auseinandersetzen.
CBM: Wir versuchen also, dieses Thema „Was ist der Mensch?“ aus verschiedenen Blickwinkeln anzugehen. Wir erhoffen uns von den Treffen ein gemeinsames Ringen um Fragen, die für unsere Pädagogik existenziell sind. Denn die Frage nach dem Menschenbild, mit dem wir leben, ist entscheidend für die Gestaltung von zwischenmenschlichen Beziehungen, aber auch für das Verhältnis zwischen Mensch und Erde.
OG:Was für einen Tipp würdet Ihr jemandem geben, der gerade frisch von der Ausbildung in eine Waldorfschule kommt?
AL: Erst einmal ankommen bei den Schülerinnen und Schülern, die man unterrichtet, sich dabei gut begleiten lassen und erst langsam Aufgaben im Kollegium und in der Selbstverwaltung übernehmen. Elternabende oder -gespräche wenn möglich immer mit Kolleginnen oder Kollegen gemeinsam vorbereiten. Die Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern muss das Wichtigste bleiben. Nach eigenen Kraftquellen suchen.
CBM: Am Anfang der Berufslaufbahn ist man mit sehr vielen konkreten Herausforderungen konfrontiert, die den Rahmen jeder Ausbildung übersteigen. Ich würde jedem raten, sich so viel Hilfe wie nötig aus dem Kollegium zu holen. Jeder ist am Anfang darauf angewiesen und es ist wichtig und sinnvoll, dass die verschiedenen Generationen innerhalb einer Schule in einen Austausch kommen. Vor allem würde ich dieser Person aber ans Herz legen, nicht aus den Augen zu verlieren, warum sie diesen Beruf gewählt hat. Dafür ist es sinnvoll, sich auf die Suche nach etwas zu machen, das einen daran erinnert und Kraft für den Schulalltag gibt.
OG:Wie seht Ihr die Zukunft der Waldorfpädagogik? Was wäre aus Eurer Sicht eine Richtung, in der man als Schulkollegium arbeiten sollte?
AL: Weg von Kompromissen und hin zu klaren Bekenntnissen zur Anthroposophie. Sie ist die lebendige, zukunftsfähige Quelle der Waldorfpädagogik.
CBM: Ich denke, dass die Waldorfpädagogik auch nach 100 Jahren noch in ihren Kinderschuhen steckt. Angesichts dieser langen Zeit droht sie aber in Traditionen und Gewohnheiten zu verhärten, statt sich weiterzuentwickeln. Meiner Ansicht nach sollte ein Kollegium versuchen, sich von einem rezepthaften Umgang mit der Pädagogik freizumachen, indem es sich um ein echtes Verständnis für die anthroposophischen Grundlagen bemüht. Aus dieser Beschäftigung heraus entwickelt sich dann die Kraft zu pädagogisch sinnvollem Handeln, das sich aus den konkreten Begegnungen zwischen Lehrern und Kindern ergibt. Das gelingt zunächst nur selten. Man darf nicht von Anfang an viel zu hohe Erwartungen an sich selbst stellen, an denen man nur scheitern kann. Entscheidend ist der Wunsch, sich immer weiterentwickeln zu wollen und sich entsprechend auf einen Weg zu begeben.
Clio Bertelli Motta, geboren 1989 in Genua, Italien, ist Mathematik-, Physik- und Religionslehrerin, Schulzeit in Italien bis 2008; Physikstudium und Promotion in Astrophysik an der Universität Heidelberg, waldorfpädagogische Weiterbildungen als Oberstufenlehrerin in den Fächern Mathematik, Physik, Freie Religion und Kunstgeschichte, seit 2018 Mitglied des Vorbereitungskreises des Forums Zukunft Waldorfschule, 2018–2022 Oberstufenlehrerin an der Freien Waldorfschule Heidelberg, seit 2022 Mittel- und Oberstufenlehrerin an der Rudolf-Steiner-Schule Birseck in Aesch, Schweiz.
Alexandra Lenhardt, geboren 1989 in Esslingen am Neckar, hat die Freie Waldorfschule Esslingen besucht, Abitur am Johannes-Kepler-Gymnasium in Stuttgart, grundständiges Studium zur Klassen- und Musiklehrerin an der Freien Hochschule Stuttgart, 2015 Abschluss Master of Arts, Teilzeitstelle an der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe in Stuttgart, Elternzeit, seit 2018 Mitglied im Vorbereitungskreis des Forums Zukunft Waldorfschule, Umschulung zur Fachkraft für Kindertagesstätten, 4 Jahre in der Kita Freibadstr. 86 in Stuttgart, Kleinkindbereich, seit 2023 Klassen- und Musiklehrerin an der Michael-Bauer-Schule in Stuttgart.