Einen Vertrauensraum schaffen für das Thema Sexualität an Waldorfschulen
Carla Tenthoff zu ihrem von der AGiD geförderten Forschungsprojekt über "Systemische Methodik für die waldorfpädagogische Sexualpädagogik?"
Sebastian Knust: Warum haben Sie Ihr Thema gewählt, was interessiert Sie daran?
Carla Tenthoff: Die Fragestellung kombiniert meine Interessen an der soziologischen Systemtheorie, der sexuellen Bildung an Schulen und der Anthroposophie/Waldorfpädagogik. Der systemische Ansatz bietet z.B. die Möglichkeit, wichtige soziale Dimensionen der Sexualpädagogik wie Scham, Humor und Unsicherheit über Grenzen in der Situation, in der sich die Klasse mit der Lehrkraft befindet, für alle Beteiligten zu berücksichtigen. Dadurch kann ein Vertrauensraum entstehen, in dem das Thema Sexualität überhaupt erst bearbeitbar wird. Das ist eine wichtige Voraussetzung, um darüber zu lernen, da neues Wissen sozial rückgebunden werden muss, um integriert zu werden.
SK: In welchem Zusammenhang steht Ihr Thema zur Anthroposophie?
CT: Die Waldorfpädagogik arbeitet mit einem vielschichtigen, ontologischen Menschenbild und nimmt ebenfalls Rücksicht auf soziale Dimensionen, während die konstruktivistische Systemtheorie ihre Werte nicht selbst begründet, sondern auf ihre Funktion hin beobachtet. Sie hat streng genommen gar kein Menschenbild. Ich erhoffe mir, die Vielfalt der systemischen Methoden auf die Grundlagen der Waldorfpädagogik für die Themen der sexuellen Bildung antworten zu lassen und Vorschläge zu formulieren. Bisher kam es, oft weil grundlegende Werte der Waldorfpädagogik nicht berücksichtigt wurden, selten zum fruchtbaren Austausch zwischen allgemeinbildenden Sexualpädagog:innen und Waldorfpädagog:innen. Dabei gibt es fast überall hohen Entwicklungsbedarf.
SK: Haben Sie durch die Beschäftigung mit dem Thema schon interessante Ideen oder Perspektiven gefunden? Möchten Sie eine oder mehrere mit uns teilen?
CT: Obwohl die Anthroposophie und die Systemtheorie so unterschiedlich sind, dass sich die Vertretenden oft mit einem gut gefüllten Katalog an Vorurteilen begegnen, finden sich in den jeweiligen pädagogischen Ansätzen viele Gemeinsamkeiten. Ich denke, dass sie sich auch bei Themen rund um Geschlechtlichkeit und Sexualität ergänzen können, welche bisher verhältnismäßig wenig beachtet werden, obwohl beide Ansätze die ganzheitliche Bildung der Kinder und Jugendlichen als ihr Anliegen formulieren. In diesem Bereich liegt eben nach wie vor, oder gerade jetzt, ein hohes soziales Risiko – aber das sind vor allem unsere Unsicherheiten und Widerstände, die wir da verhandeln und weitergeben. Die Kinder und Jugendlichen können nichts dafür, dass wir an einigen Punkten verschiedener Meinung sind. Sie haben ein Recht auf gute Bildung.
Zur Person | Carla Tenthoff hat an der Uni Witten/Herdecke Philosophie und Kulturreflexion studiert und neben dem Studium bei Wildwasser Hagen e.V., einem Verein gegen sexualisierte Gewalt, gearbeitet. Dadurch ist ihr Interesse an guter sexueller Bildung entstanden, da Sexualpädagogik auch Präventionsarbeit bedeutet. Im Studium hat sie sich viel mit Systemtheorie und systemischen Ansätzen beschäftigt. Durch ihren Hintergrund als Waldorfschülerin und dem Ansatz der ganzheitlichen Pädagogik der Waldorfschulen, die die Sexualpädagogik mit einschließt, hat sie zu ihrem Thema gefunden, um an methodischen Vorschlägen zu diesem Bereich zu arbeiten.