Geistimpuls Anthroposophie – 1925 bis 2025
Vor 100 Jahren, Weihnachten 1924, hielt alles den Atem an. Rudolf Steiner musste Ende September seine unermesslich erscheinende Vortragstätigkeit einstellen. Er war völlig entkräftet und krank. Sein Krankenlager wurde in der Schreinerei neben der Ruine des abgebrannten Goetheanums eingerichtet. Was würde geschehen? Am 24. Dezember verlas Marie Steiner auf der Weihnachtsfeier am Abend einen Brief Rudolf Steiners, in dem er unter anderem an die Mitglieder schrieb: „Das alles muss als ein Schicksal hingenommen werden. Viele Worte darüber zu machen, wie schmerzlich das physische Getrenntsein von den Wirkensstätten mir ist, wäre sentimental.“ Doch dann, am 30. März 1925, wurde zur Gewissheit, was sich niemand zu denken erlaubt hatte, Rudolf Steiner starb, gerade 64 Jahre alt.

Die Jahreswende ein Jahr zuvor, 1923/24, war die Zeit der Weihnachtstagung, der Geburtsstunde des Grundsteinspruchs und der Statuten einer zukünftigen Sozialgestaltung der Anthroposophischen Gesellschaft. Beides bringt zum Ausdruck die fundamentale Dreigliedrigkeit des Menschen, des Sozialen, der Welt und ihrer Schöpferkräfte. Demnach können Mensch und Welt nur in der Dreigliedrigkeit ihrer Wesensstruktur umfassend begriffen werden als essenziell in- und miteinander verbunden, auf den Ebenen von Leib, Seele und Geist. Das Verständnis des Geistigen, weit mehr noch als das des Seelischen, ist seit Jahrhunderten Anlass gewesen zu radikalen Auseinandersetzungen auf allen Ebenen des menschlich-kulturellen Lebens. Nicht zuletzt liegen die Wurzeln der aktuellen kriegerischen Auseinandersetzungen in Osteuropa in den mehr als tausend Jahre waltenden Kultur und Glaubenskämpfen um die rechtmäßige Auffassung des Geistes.
In dieser fortwährenden Krise des Menschen und Weltbildes, die heute unvermindert, vielleicht sogar radikaler denn je herrscht, wurde bei der Weihnachtstagung 1923/24 eine Essenz in die Herzen der Anwesenden gelegt, die den weiteren Entwicklungsweg des Menschen weist, ein dreifaches „Übe!“: „Übe Geist-Erinnern“ – „Übe Geist Besinnen“ – „Übe Geist-Erschauen“! Und: „Denn es waltet der Vater-Geist“ – „Denn es waltet der Christus-Wille“ – „Denn es walten des Geistes Weltgedanken“! Das Geistige im Menschen, verbunden mit dem Geistigen der Welt! Es war ein neues, erweitertes „Erkenne dich selbst!“ gesprochen: Erkenne dich selbst nach Geist, Seele und Leib.
Schaut man auf die Kulturgeschichte der Menschheit und den ausweglos erscheinenden Kampf um die letztgültige Auffassung des Geistes, so wird erst deutlich, um welch epochales Ereignis es sich bei der Grundsteinlegung gehandelt hat.
Wir Menschen stehen demnach nicht in subjektiver, staubkornkleiner Vereinzelung in der objektiven, unendlich weiten Welt, sondern sind in allem, was sich in uns entwickeln lässt, zum Schaden oder zum Nutzen, mit der Welt verbunden. Daher erwächst uns diese grandiose Möglichkeit, uns im Zusammenhang zu sehen mit den umfassendsten Entwicklungsvorgängen. Wir dürfen also davon ausgehen, dass die Entwicklung des Geistigen in uns verbunden ist mit der Entwicklung des Geistigen in der Welt.
So heißt es gleich im ersten Leitsatz: „Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltenall führen möchte.“ Wie kann es uns nun gelingen, Leib, Seele und Geist in eine Wechselwirkung der Entwicklung zu bringen? Und wie entwickeln wir den individuellen Geist in uns selbst? Wie pflegen wir den Geisteskeim, das Geisteskind in uns?
Und dann wird uns die Vorstellung auch nicht mehr ferne liegen, dass wir als Einzelne ein Glied in der ganzen Menschheit und mitverantwortlich sind für alles, was geschieht. So ergründen wir uns als Wesen, die durch die eigene, innere Gedanken- und Gefühlsbildung Welt-gestaltend und Welt-wirksam sind. Mit 2025 beginnt kalendarisch das zweite Jahrhundert nach Rudolf Steiners Tod. Wir alle kennen seine Bemerkungen zu der Wirksamkeit eines geistigen Impulses. Nach dreimal 33 1/3 Jahren erschöpfe sich ein geistiger Impuls. Weiterhin wirksam könne er nur sein, wenn er erneuert werde. „Man erkennt die Intensität eines Impulses, den der Mensch ins geschichtliche Werden hineinlegt, auch in seiner Wirksamkeit durch drei Generationen, durch ein ganzes Jahrhundert hindurch.“ Demnach geht es nun darum, dass jeder Einzelne seinen individuellen Geisteskeim ergreift und in sich entwickelt. Denn er kann wissen, dass es der Welt nicht gleichgültig sein kann, wie er sein Bewusstsein bestellt. Und in dieser Verantwortung des individuellen Bewusstseins für das Geistige in der Welt arbeiten wir mit den anderen zusammen im Zeichen des ethischen Individualismus an der weiteren Ausgestaltung der Anthroposophischen Gesellschaft und der Welt der Zukunft.
Ich fühle wie entzaubert
Das Geisteskind im Seelenschoß;
Es hat in Herzenshelligkeit
Gezeugt das heil‘ge Weltenwort
Der Hoffnung Himmelsfrucht,
Die jubelnd wächst in Weltenfernen
Aus meines Wesens Gottesgrund.
Rudolf Steiner