RUDOLF STEINER LESEN UND VERSTEHEN
Editorial, Zeitschrift STIL, erschienen am
»Jedes einmal ins Licht getretene Wort ist ein Vorspann (der Menschheit) für immer. Denn jedes fordert, sobald es nur sichtbar wird, zur Produktion heraus. Man kann kein Wort lesen oder hörend aufnehmen, ohne es zugleich aus seinen Schrift- oder Tonelementen wieder zu schaffen. Schaffen heißt beseelen; ein nicht wieder beseeltes Wort bliebe ein nicht wieder geschaffenes, d. h. für den Nichtbeseeler tot.«
Christian Morgensterns Aphorismus aus dem Jahr 1909 verweist auf den Urbeginn, der war und immer sein wird. Wenn wir sprechen und hören, schreiben und lesen, treten wir in den Schöpfungsprozess selbst ein. Im Wort werden wir geboren und werden Mensch. Doch auch wenn die Worte den Urbeginn und die Menschwerdung in sich tragen, müssen diese sich nicht ereignen.
Es gibt auch Worte, die tot sind und unbeseelt. Worte, die zwar ans Licht treten, aber selbst nicht Licht sind. Auch davon spricht Morgenstern. Es sind die Worte, die allein Dinge bezeichnen, die Informationen transportieren und keine inneren Bewegungen des Sprechenden und Hörenden, Schreibenden und Lesenden erfordern.
Das poetische Wort birgt an sich schon die Vielfalt aller Erscheinungen in sich. Es ist nicht eindeutig und eng, denn in seinen Klängen und Rhythmen lebt die Bewegung jedes Anfangs fort. Diese Bewegung zu erfassen, ist nicht einfach. Dazu bedarf es innerer Anstrengung, im Sprechen, Schreiben und Lesen hörend zu werden. Dann dringen wir durch das Wort hindurch und treten ein in den Raum der Stille, aus dem alles entstanden ist und entsteht.
Der Geisteswissenschaftler betritt diesen Raum aus seinem denkenden Bewusstsein heraus. Jeder Schritt ist gedacht, jeder Schritt ist bedacht, sodass zu jeder Zeit und an jedem Punkt der Grund, auf dem er steht und fortschreitet, ein selbst erzeugter ist. Nur so entsteht Freiheit.
Rudolf Steiner führt in seinen Werken methodisch zu dieser Freiheit, die nichts oder zum geringsten Teil etwas mit inhaltlichen Aussagen zu tun hat. Seine Bücher sind schwierig und schwer zu lesen. Manche Sätze sind geradezu unverständlich, andere wiederum scheinen ganz einfach und werden mit jedem neuen Lesen immer schwieriger. Doch gerade diese Schwierigkeiten öffnen das Tor in die Welt des Geistigen. Sie erfordern Arbeit mit dem Wort und führen durch das Wort zu den Gedankenbewegungen selbst.
Die Texte der vorliegenden Ausgabe sind Versuche, den Denkbewegungen Rudolf Steiners nachzugehen. Sie sind alle so verschieden, wie ihre Verfasser und Verfasserinnen verschieden sind. Damit sind sie auch ein Zeugnis davon, dass gerade in der individuellen Aneignung und im Bestehenlassen der anderen der Weg zur Wahrheit gegangen werden kann. In unserer Zeit, in der an so vielen Orten auf alleingültige Wahrheiten für alle bestanden wird, bis dahin, dass diejenigen, die sich nicht beugen, getötet werden, kann ein inneres Hören auf die Sprach- und Denkbewegungen die Probleme sicher nicht lösen, aber vielleicht ein Licht sein und Vorspann der Menschheit im Sinne Morgensterns. Eine eigene Farb- und Lichtsprache sprechen die Bilder von Emanuela Assenza. Ihre Bilder fordern, wie Texte Rudolf Steiners, dazu auf, genau zu schauen, hindurchzuschauen und die Sinnesgrenzen zu überschreiten.
Aus der Redaktion in Dornach grüßen Sie herzlich
Ariane Eichenberg und Christiane Haid