Corona-Krise versus Differenzierung
Zweiter Teil der kommentierten Presseschau.
Im Zuge der vierten Corona-Welle ist die Anthroposophische Bewegung besonders stark in die Kritik geraten. Im Anschluss an eine „Studie“ des Basler Professors Oliver Nachtwey, die vor allem die Nähe der „Anthroposophen“ zu den coronakritischen „Querdenkern“ in Baden-Württemberg thematisiert hatte, entwickelte sich in den letzten Wochen ein regelrechter Sturm von Artikeln in den deutschsprachigen Medien.
Das ist umso verwunderlicher, als es sich bei Nachtweys Wortmeldung gar nicht um eine wissenschaftlich fundierte Studie handelt – was der Autor selbst im Begleitwort schreibt. Sie ist keinesfalls repräsentativ. Es handelt sich hier um eine „Exploration“ eines Themas. Dies kann man auch an der Zahl der Probanden ablesen: Nachtweys Thesen gründen auf der Befragung von gerade mal 8 Personen!
Der Grundtenor in der Presselandschaft lautet: die „Anthroposophen“ würden mit ihrer „esoterisch“ begründeten „Impfverweigerung“ der gesamten Gesellschaft schaden. Man sollte meinen, dass sich solche Aussagen leicht entkräften lassen: Stellt man beispielsweise die gut 12.000 Anthroposoph*innen der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland den Millionen ungeimpften Menschen gegenüber, ergibt sich eine klare Unverhältnismäßigkeit. Innerhalb der anthroposophischen Szene bestehen stark differenzierte Haltungen bei der Frage zur Impfung – wie eben auch im Rest der Gesellschaft. Und letztendlich helfen die vielen anthroposophischen Arztpraxen und Krankenhäuser mit unermesslichem Engagement mit, die Pandemie zu bekämpfen – selbstverständlich auch durch Impfungen!
Doch trotz solch einfacher und eindeutiger Gegenargumente trifft die Stigmatisierung in den aktuellen Zeiten höchster gesellschaftlicher Erregung auf ein Bedürfnis nach eindeutigen Antworten. Die Menschen im Land suchen einen Sündenbock für die Impfmüdigkeit der Deutschen. Und sie meinen, ihn gefunden zu haben – in der Anthroposophie. Eine differenzierte Debatte fällt nicht leicht, aber gerade wegen des hohen gesellschaftlichen Drucks muss eine solche gerade jetzt stattfinden. Denn die Alternative würde eine immer weitere Vergrößerung der gesellschaftlichen Gräbenzur Folge haben! In der folgenden kommentierten Presseschau wird eine Auswahl an Beiträgen der vergangenen Tage wiedergegeben.
Jens Heisterkamp von der „Info3“ beschäftigt sich zusammen mit dem Bildungs- und Sozialwissenschaftler Dirk Randoll kritisch mit den sogenannten „Nachtwey-Studien“, die eine große Überschneidung der „Anthroposophen“ zu den coronakritischen „Querdenkern“ feststellen will. Immerhin räumen die Macher der Studie ein, dass die Ergebnisse nicht „repräsentativ“ seien. Doch das hält sie nicht davon ab, losgelöst von Empirie medienwirksame Behauptungen aufzustellen, wie z.B.: „Es gibt eine starke Wahlverwandtschaft zwischen dem anthroposophischen Denkstil und der Corona-Kritik“. Dirk Randoll kritisiert: „Die empirischen Teile entsprechen nicht den Kriterien wissenschaftlichen Arbeitens, weil sie nicht nachvollziehbar sind (unter anderem die Befragung über Telegram) und weil die Auswahl der Stichprobe und ihr Zustandekommen nicht transparent ist.“ So umstritten die Studie ist, so einflussreich wurde sie für die anschließende breite Berichterstattung in den Medien.
Vielen dürfte Ansgar Martins, ein langjährige Kritiker der Anthroposophischen Bewegung, bekannt sein. Im Fahrwasser der aktuellen Aufregung über die „Anthroposophen“ hat er sich in der „Welt“ ebenfalls zu Wort gemeldet. Immerhin erkennt er den offensichtlichen Umstand an, dass der Einfluss der Anthroposophen auf die in Deutschland herrschende Impfskepsis schon rein zahlenmäßig nicht stimmen kann. Trotzdem meint er, dass der „schlechte Ruf“ der Anthroposophen selbst verursacht sei. Er wirft ihnen Unreflektiertheit vor und zu wenig kritische Distanz zu „esoterischen“ oder „verschwörungstheoretischen“ Aussagen Rudolf Steiners sowie zu dem „verschwörungsideologischen Teil des anthroposophischen Milieus“. Manche seiner in diesem Beitrag sehr undifferenziert vorgetragenen Aussagen mögen in unaufgeregten Auseinandersetzungen sogar einen konstruktiv Beitrag leisten. In diesem Zusammenhang ist der Versuch, von der Kritik-Welle an den „Anthroposophen“ zu profitieren, aber doch recht offensichtlich.
Die „Anstalt“, eine politische Comedy-Sendung des ZDF, befasste sich ausgiebig mit der Anthroposophie und der Anthroposophischen Medizin. Insgesamt wurde mit satirischen Mitteln das Bild einer Bewegung geschaffen, die eine „parawissenschaftliche“ Medizin mit finanziellen und politischen Mitteln jahrelang in die Mitte der Gesellschaft getragen haben soll. Bereits bekannte Erzählungen wurden bedient: z.B. dass in anthroposophischen Krankenhäusern Corona-Patienten mit „Globoli“ und „Kometenstaub“ behandelt würden. Dass die „Anstalt“ das Thema aufgreifen würde, war wohl nur eine Frage der Zeit. Immerhin ist Dietrich Kreiss ein wichtiger Mitarbeiter der „Anstalt“ und der schon viele kritische Beiträge über die Anthroposophie verfasst. Bei seinen Recherchen scheint ihm aber beispielsweise entgangen zu sein, dass anthroposophische Medizin sich nach wie vor als Ergänzung zur konventionellen Medizin versteht und entsprechende Therapieformen für die Corona-Patient*innen entwickelt hat, die beide medizinische Ansätze vereinen! Aber klar, solche Details würden dem satirischen Kontrast der Sendung schaden – schaden tut es leider aber auch einer realistischen Darstellung der Anthroposophischen Medizin.
https://www.zdf.de/comedy/die-anstalt/die-anstalt-clip-3-200.html
https://www.zdf.de/comedy/die-anstalt/die-anstalt-clip-4-200.html
In einem seriöseren Beitrag des ZDF stellten sich der Demeter-Landwirt Sebastiaan Huisman und Vertreter des Fruchtsaftherstellers „Völkel“ den kritischen Fragen zur biologisch-dynamischen Landwirtschaft. In konstruktiver Art erklärte Huismann sein pragmatisches Verhältnis zu den auf den Feldern verteilten „Demeter-Präparaten“. Der Geschäftsführer Jurek Völkel kommentiert die dem Unternehmen vorgeworfene „Irrationalität“ folgendermaßen: „Wir müssen so viel wirtschaftliche Irrationalität wie möglich wagen, weil das, was sinnvoll ist für die Menschheit, nicht immer die profitabelste Lösung für ein Unternehmen in den nächsten zwei Jahren sein kann.“
Bei der aktuellen Berichterstattung fällt besonders negativ auf, dass man vor allem über aber nicht mit den Betroffenen spricht. Da ist das Interview mit dem Arzt Thomas Breitkreuz vom anthroposophischen Parcelsus-Krankenhaus in den „Badischen Neusten Nachrichten“ eine wohltuende Ausnahme. Er hat nicht den Eindruck, dass die Impfskepsis in der anthroposophischen Medizin höher als anderswo ist und weist darauf hin, dass der Dachverband Anthroposophische Ärzte sich schon früh für das Impfen von Risikogruppen ausgesprochen hatte. Bezüglich der Impfpflicht hat er ebenfalls eine klare Haltung: „Was die Diskussion über die allgemeine Impfpflicht angeht, setze ich allerdings nach wie vor auf Überzeugungsarbeit und eine freie und zugleich verantwortungsvolle Entscheidung.“
„Das ist eine Katastrophe“: So wurde ein Video von „Reuters“ überschrieben, in dem Harald Matthes, der ärztliche Leiter des anthroposophischen Gemeinschaftskrankenhauses Havelhöhe in Berlin, befragt wurde. Er beschreibt die schwierigen Zustände auf der dortigen Intensivstation, wo es – wie in ganz Deutschland – zu starken Abwanderungen von Pflegekräften gekommen ist. Rund 10.000 Intensiv-Betten weniger sind aktuell vorhanden als bei der dritten Welle zu Beginn des Jahres! Da kommt auch eine geplante Impfpflicht für Pflegekräfte ungelegen, weil sie eine weitere Hürde darstelle und die Abwanderung begünstige.
Der Publizist Wolfgang Müller wird in der „Info3“ unter anderem nach den tieferliegenden Ursachen der Kritik an der Anthroposophie befragt. Er kritisiert einen oberflächlichen Journalismus, der auf die „spektakelhaften Aspekte“ abziele und dem es an „Wahrheitsliebe“ fehle. Ein beliebtes Beispiel seien aktuell die „vergrabenen Kuhhörner“ der Demeter-Bauern. Auf die Frage, was denn der aktuellen Anthroposophie fehle, antwortete er: „Vielleicht etwas sehr Einfaches: dass sie sich selbst erklären kann. Aber dieses Einfache ist zugleich etwas wahnsinnig Schwieriges. Weil die Anthroposophie eben, wenn man sie ernst nimmt, nicht bloß eine spirituelle Verzierung am heutigen Weltbild ist, sondern gegenüber diesem Weltbild eine in mancher Hinsicht radikal andere Perspektive hat. Damit erregt sie natürlich Anstoß und ist eine Beunruhigung. Daher kommen ja auch die ständigen Vorwürfe, sie sei obskur und unwissenschaftlich. Dabei – Steiner hatte ja die Wissenschaft seiner Zeit voll drauf – will sie eigentlich mehr Wissenschaft, tiefere Wissenschaft, die aber zugleich – das ist wahr – eine andere Wissenschaft sein wird.“
https://www.anthroposophische-gesellschaft.org/blog/versuchen-die-dinge-plausibel-zu-machen
Sebastian Knust | AGiD, Referent für Öffentlichkeitsarbeit