Experiment mit ungewissem Ausgang
Die Weihnachtstagung zur Neugründung der Anthroposophischen Gesellschaft 1923/24 und Rudolf Steiners Hochschulimpuls. Aus der Zeitschrift DieDrei, Ausgabe 2024/1.
Noch unter dem unmittelbaren Eindruck der »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts«[1] stehend, wie der Historiker George F. Kennan den die Geschichte dieses Jahrhunderts bestimmenden Ersten Weltkrieg charakterisiert, gab Rudolf Steiner im Jahr 1918 ›Die Philosophie der Freiheit‹ neu heraus. Der Autor versah sein damals weitgehend in Vergessenheit gesunkenes Hauptwerk bei dieser Gelegenheit mit erläuternden Zusätzen und einer ›Vorrede‹. Offenbar war es ihm, der zu diesem Zeitpunkt seit mehr als einem Jahrzehnt in der theosophisch-anthroposophischen Bewegung als vielbeanspruchter Vortragsredner, Lehrer und Berater unterwegs war, wichtig, auf die Grundlagen der von ihm vertretenen Geisteswissenschaft zu verweisen. Es galt, das Ideal eines »ethischen Individualismus« ins Bewusstsein seiner spirituell meist hochmotivierten Schülerinnen und Schüler zu rücken. Diese waren aufgrund ihres Hangs zu mystischen Traditionen und unter dem Eindruck der Autorität des »Meisters« sowie der von diesem übermittelten »Offenbarungsinhalte« stets gefährdet, ihr selbstständiges Denken und Beobachten zumindest partiell einzubüßen.
Worum geht es dem Verfasser der ›Philosophie der Freiheit‹? In ihr wird »der Versuch« unternommen, »nachzuweisen, dass es eine Anschauung über die menschliche Wesenheit gibt, welche die übrige Erkenntnis stützen kann; und der weitere, darauf hinzudeuten, dass mit dieser Anschauung für die Idee der Freiheit des Willens eine volle Berechtigung gewonnen wird, wenn nur erst das Seelengebiet gefunden ist, auf dem das freie Wollen sich entfalten kann.«[2]
Der Blick des Lesers soll also auf einen zunächst noch unentdeckten Bereich gelenkt werden, auf dem die »für alles Erkennen grundlegenden Fragen« einer Beantwortung zugeführt werden können.[3] Erst die Arbeit an der Errichtung einer individualgeistigen Freiheitsgestalt, die vollbewusste Hervorbringung der auf Selbstbindung beruhenden Intuitionen und der daraus gewonnenen Erkenntnisbegriffe mache den Menschen zu einem Individuum – so lautet der andere, das Buch dominierende Gedanke, den der Autor im Folgenden konsequent entwickelt. Denn man könne »den Begriff des Menschen nicht zu Ende denken, ohne auf den freien Geist als die reinste Ausprägung der menschlichen Natur zu kommen«. Der betreffende Passus gipfelt in der Erkenntnis: »Wahrhaft Menschen sind wir doch nur, insofern wir frei sind.«[4] Bestrebungen, die Idee der Freiheit nicht an die Spitze der Pyramide anzustrebender Ideale zu stellen, räumt der Verfasser demgegenüber mindere Bedeutung ein, da ihre Urheber dem »Begriff des Menschen« entweder keine oder zu wenig Beachtung zollen, sofern sie ihn nicht sogar verfehlen.
Die mehr als einhundertjährige Binnengeschichte der Anthroposophischen Gesellschaft bietet, wie es Lorenzo Ravagli in einer verdienstvollen dreibändigen Studie dokumentiert, neben zahlreichen Zeugnissen eines gelingenden Umgangs mit dem schriftlichen und mündlichen Erbe Rudolf Steiners denn auch Beispiele einer selektiven Ausbeute dieses Werkes im Dienst einer mangelnden Wertschätzung des der Anthroposophie zugrunde liegenden Anliegens ihres Begründers.[5] Bildet die in seiner ›Philosophie der Freiheit‹ entwickelte Menschenkunde doch den Prüfstein für die Frage, inwieweit das, was ich »guten« – aber auch freien? – Willens denke und ausführe, tatsächlich in dem Ideal des »wahrhaft Menschlichen« ruht. Bin ich ein aus Erkenntnis Handelnder, steht also »meine in Liebe getauchte Intuition in der rechten Art in dem intuitiv zu erlebenden Weltzusammenhang drinnen«[6] – oder folge ich mehr oder weniger blind dem, was in meinem Innern an Gedankenbildern und den an sie geknüpften Empfindungen aufsteigt? ›Die Philosophie der Freiheit‹ als ein »Mahner an der Schwelle« konfrontiert mich überdies mit der Gewissensfrage, welche meiner liebgewonnenen Ideale und Handlungen wesentlich und welche weniger wesentlich oder vielleicht sogar abwegig sind.
Wie erlangt man sichere Erkenntnisse der höheren Welten?
Einem zunächst eher unscheinbaren Satz in der »Vorrede« kommt in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung zu, da Rudolf Steiner in ihm das Verhältnis zwischen den von ihm übermittelten Forschungsergebnissen und der ihnen zugrunde liegenden goetheanistisch-phänomenologischen Methode absteckt: »Diese ›Philosophie der Freiheit‹ erhält keine solchen speziellen Ergebnisse, eben sowenig als sie spezielle naturwissenschaftliche Ergebnisse enthält; aber was sie enthält, wird derjenige nach meiner Meinung nicht entbehren können, der Sicherheit für solche Erkenntnisse anstrebt.«[7]
Gerade der zweite Teil dieses Satzes könnte die Aufmerksamkeit des heutigen Lesers beanspruchen. Denn im Umkehrschluss beinhaltet er die Aussage, dass eine »sichere Erkenntnis« spiritueller Inhalte Steiners Auffassung zufolge überhaupt nicht möglich ist, wenn sie nicht von dem Boden seiner Erkenntniswissenschaft ausgesucht wird. Erkenntnisaufschwünge, die ihren Ausgang nicht in der »seelischen Beobachtung nach naturwissenschaftlicher Methode« nehmen und somit nicht in der von Goethe begründeten und von Steiner auf den Erkenntnisvorgang selbst angewandten Methodologie urständen, spricht der Autor damit implizit die Möglichkeit ab, ein gesichertes Wissen von der geistigen Welt zu erlangen. Denn die »Grundlage«, auf der »Forschungsergebnisse« geistiger Art »ruhen können«, müsse erst seelisch »erbaut« werden.[8]
Mehr als ein Jahrhundert nach der ersten Neuauflage der ›Philosophie der Freiheit‹ stellt sich die Frage: War den Lesern dieses vielgelobten Werkes immer die Tragweite jener Aussagen mit all den sich aus ihnen im Hinblick auf den Umgang mit der Anthroposophie ergebenen Konsequenzen bewusst? Diese Frage kann sicher nicht vorbehaltlos bejaht werden. Denn in Abrede stellen lässt sich kaum die Angewohnheit einiger Autoren und Vortragsredner, dem erkenntnismethodischen Hauptwerk Rudolf Steiners den Status einer Fußnotenreferenz zuzuweisen, die eine Art Alibifunktion im Hinblick auf einen wissenschaftlichen Anspruch erfüllte, den einzulösen sie selbst nicht imstande, bisweilen aber auch nicht willens waren.
1924, im Gründungsjahr von Anthroposophischer Gesellschaft und Hochschule, erschienen die ›Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung‹, Rudolf Steiners Erstling von 1886, in einer zweiten Auflage.[9] Der Autor versah die während seiner Arbeit an der kommentierten Herausgabe der naturwissenschaftlichen Aufsätze Goethes entstandene, von ihm neu durchgesehene Jugendschrift ebenfalls mit einer ›Vorrede‹. In den ›Grundlinien‹ greift er die von dem Altmeister skizzierte Methode der lückenlosen, d. h. durch keine vorstellungsassoziative Einschübe unterbrochenen phänomenologischen Beobachtungen auf, bezieht sie auf den von der Seele zwischen dem Wahrnehmungs- und dem Ideenpol unternommenen Pendelschlag und schreibt sie im Sinne einer »Erkenntnistheorie« fort. Diese »Theorie« stellt allerdings ein Vademecum des erkenntnispraktischen Selbstvollzuges dar, in dem all die von dem Verfasser nach der Jahrhundertwende referierten und publizierten geisteswissenschaftlichen Forschungsresultate ihren Ursprung haben. In der ›Vorrede‹ weist Steiner die in seinem Buch skizzierte Epistemologie als »Grundlegung und Rechtfertigung von alle dem, was ich später gesagt und veröffentlicht habe«, aus. Denn: »Sie spricht von einem Wesen des Erkennens, das den Weg freilegt von der sinnenfälligen Welt in eine geistige hinein.«[10]
Damit gesteht er dem Studium der goetheanistischen Erkenntnismethode und dem Einüben in sie indirekt auch den Primat innerhalb der von ihm im ins Leben gerufenen Hochschule für Geisteswissenschaft zu. Denn weder deren Name (»Goetheanum «) noch der Zeitpunkt der Neuauflage seiner erkenntnismethodischen Frühschrift waren von ihm zufällig gewählt worden. Die Allgemeine Anthroposophische Sektion, welche seinem Willen zufolge das Fundament des Hochschulgebäudes bilden und die in den Fachsektionen geleisteten Arbeiten miteinander verknüpfen sollte, weist schon in der Namensgebung darauf hin, dass es in ihr vorrangig darum gehen soll, den in der ›Philosophie der Freiheit‹ aufgezeigten »Begriff des Menschen« zu studieren und »zu Ende zu denken«. Es ist somit die Aufgabe der dieser Sektion Angehörigen, Fähigkeiten zu schulen, sich innerhalb der Gesetzmäßigkeit von Wahrnehmungs- und Denkakt experimentell zu bewegen, um so individuelle Beobachtungskompetenzen zu erwerben. Das Studium fundamentale der Erkenntniswissenschaft Rudolf Steiners und die vorbildliche Kenntnis und Handhabung der goetheanistischen Methodologie bilden also die Einlassvoraussetzungen für die Hochschule und die in ihr »stufenweise« zu leistende »geistige Forschung«.[11] Ohne das Ernstnehmen dieser allgemein-menschlichen Zugangsberechtigung aber steht der nach Goethe benannte Bau als ein Refugium zur Befriedigung privatesoterischer bzw. künstlerischer Schulungsanliegen von Anthroposophen in der Zivilisation der Gegenwart da. Er muss dann von dieser als ein bewusstseinsgeschichtlicher Anachronismus abgewiesen, wenn nicht sogar bekämpft werden, sofern sie in ihm nicht nur einen Gegenstand architektur- oder kulturtouristischen Interesses erblickt.
Die Dornacher Hochschulwochen im Jahr 1920
Wenige Jahre zuvor hatten Rudolf Steiner und einige anthroposophisch orientierte Akademiker mit der Durchführung von Hochschulwochen die Hoffnung gehegt, die Anthroposophie auf unterschiedlichen fachwissenschaftlichen Feldern zu etablieren und ihr dadurch auch zu mehr Ansehen zu verhelfen. Den etwa 30 Vortragenden der zwischen dem 26. September und dem 16. Oktober 1920 auf dem Gelände des Ersten Goetheanums stattfindenden Veranstaltungen gehörten Biologen, Chemiker, Historiker, Juristen und die Vertreter weiterer Disziplinen an, darunter verdienstvolle und engere Mitarbeiter Steiners wie die Pädagogin Caroline von Heydebrand, der Physiker Hermann von Baravalle, der Philosoph Carl Unger oder der Arzt Eugen Kolisko. An die jüngeren, oft noch im Studium befindlichen Teilnehmer wandte sich der Spiritus rector mit eindringlichen Worten: »Wir rechnen mit allem Nachdruck auf Sie aus dem Grunde, weil ja, wenn dem drohenden Untergang der abendländischen Zivilisation entgegengearbeitet werden soll, das tatsächlich nur – so, wie die Verhältnisse heute einmal liegen – von der Wissenschaft herkommen kann.«[12]
Offenbar stand dem Referenten deutlich vor Augen, dass einem nachhaltigen gesellschaftlichen Wandel ein elementares Umdenken vorausgehen muss, das im Zeitalter der Wissenschaften aber nur aus diesen selbst erwachsen kann. Dies galt damals ebenso wie es heute noch – in vielleicht sogar verstärktem Maße – gilt. Durchdringen doch die naturalistischen Paradigmen vor allem der Natur- und Gesellschaftswissenschaften und der ihnen zugrunde liegenden Kantschen Philosophie vermeintlich unüberschreitbarer Erkenntnisgrenzen sämtliche Kapillare des sozialen Daseins, somit auch dort noch, wo Menschen ihr Weltwissen vornehmlich aus Illustrierten, Boulevardblättern oder populärwissenschaftlichen TV- und Internetdokumentationen beziehen.
Einigen Aussagen Steiners ist zu entnehmen, dass er mit der Bilanz dieser Hochschulwochen recht unzufrieden war. Sein Fazit fiel entsprechend nüchtern aus. Denn vieles von dem, was die Redner vortrugen, war nach seiner Überzeugung »nicht ganz aus derselben Idee herausgewachsen« wie »der [Goetheanum-] Bau selbst«.[13] Die Neigung, nicht oder nur unzureichend Durchschautes mit allerlei Geschlussfolgertem, das den Mitteilungen Rudolf Steiners ebenso wie dem jeweiligen Kenntnisstand der Wissenschaften entstammt, zu amalgamieren, stellt bis heute eine beträchtliche Versuchung für jeden dar, der sich mit anthroposophischen Inhalten intensiver beschäftigt und seelisch verbindet. Ein solches Mixtum compositum wird jedoch weder der Anthroposophie als scientia intuitiva im Sinne Goethes noch den gängigen Natur- und Geisteswissenschaften gerecht. Letztere verfahren nach auf ihrem begrenzten Gebiet oft vollkommen berechtigten Methoden und bedürfen daher auch keiner Vermengung mit voraussetzungsvoll gewonnenen Theorien und Spekulationen anthroposophischer Provenienz.[14]
Eindringen in eine Gedankentechnik
Peter Selg hat in einer schmalen Studie über ›Die Eröffnung des Goetheanum und die Diffamierung der Anthroposophie‹ Rudolf Steiners damalige Haltung anhand mündlicher Selbstzeugnissen nachgezeichnet.[15] Aus den kritischen Urteilen Steiners zu den von den Akademikern gegebenen Beiträgen zogen offenbar einige seiner Schüler den Schluss, dieser habe infolge der in die Dornacher Hochschulwochen gesetzten, letztlich unerfüllt gebliebenen Erwartungen an die Stelle des Versuches, einen Brückenschlag zwischen Spiritualität und den Wissenschaften vorzunehmen, nur wenige Jahre später die Esoterik der Ersten Klasse der Hochschule gesetzt. Die Hauptaufgabe ihrer Mitglieder bestünde daher auch in dem Anhören und der meditativen Pflege der 19 Klassenstunden inklusive ihrer Mantren.
Ein entfernter Nachhall dieser Haltung ist selbst noch in einigen gegenwärtig zur Weihnachtstagung erschienenen Artikeln zu vernehmen. Manche der Autoren legen den Schwerpunkt der Darstellung auf die von Rudolf Steiner angedeuteten mysteriengeschichtlichen Zusammenhänge, in welche die Gründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft eingebettet war. Die elementare Frage, welcher erkenntnismethodische Ansatz der Goetheanumidee innewohnt, bleibt hingegen meist unbehandelt. Hierbei gerät aus dem Blick, dass Steiners Begriff der »echten, wahren Esoterik«[16], in Verbindung mit der von ihm intendierten »Welten-Zeiten-Wende«[17], nicht nur die in seinen Grundschriften entwickelte Methodologie einschließt, sondern diese vielmehr all seinen Erkenntnisbildungen und somit auch den im Rahmen der Hochschule von ihm eingebrachten Initiativen zugrunde liegt.
Aus den überlieferten Zeugnissen ist nicht zu ersehen, dass Rudolf Steiner sein ursprüngliches Vorhaben, Anthroposophie als Wissenschaft zu etablieren, zugunsten der Esoterik der Hochschulklasse aufgegeben oder auch nur zurückgestellt hätte. Seine aus dieser Zeit stammenden mündlichen Äußerungen legen, ebenso wie Hinweise in seiner später entstandenen, Fragment gebliebenen Autobiografie ›Mein Lebensgang‹[18] einen anderen Schluss nahe: Zwei Jahre nach dem ersten, im Gesamtergebnis unbefriedigenden Hochschulexperiment, dem Ostern 1921 ein weiteres, offenbar erfolgreicher verlaufendes folgen sollte, brachte er sein Bedauern angesichts der fehlenden Brücke, ja des »Abgrundes« zwischen der Esoterik der Zweigabende und den Wissenschaften zum Ausdruck. Seine bei dieser Gelegenheit gebrauchte drastische Wortwahl führt vor Augen, wie schmerzhaft für ihn das Desinteresse eines Großteils der Mitglieder an der Methodenfrage gewesen sein muss: Es sei »nicht zu leugnen, daß gerade wegen dieses Abgrundes das Ganze unserer anthroposophischen Bewegung krankt, äußerlich und innerlich krankt.« Er selbst werde genötigt, »in öffentlichen Vorträgen möglichst den wissenschaftlichen Charakter zu wahren, dann wiederum in Zweigvorträgen in das Esoterische einzutauchen, dadurch hat unsere Bewegung etwas, was sie hemmt, was sie nicht in eingehender Weise vorwärtskommen lässt.«[19]
Offenbar sah Steiner in den von ihm nur schweren Gewissens bedienten Bedürfnissen vieler Mitglieder nach Mitteilung immer neuerer Offenbarungen die Achillesverse der von ihm in Gang gesetzten Bewegung. Schon sehr viel früher, in einem vor Publikum der Theosophischen Gesellschaft am 17. August 1908 gehaltenen Vortrag, in dem er die Bedeutung der erkenntniswissenschaftlichen Arbeiten Carl Ungers hervorhob, hatte er vor den Konsequenzen eines hemmungslosen Konsums esoterischer Inhalte gewarnt. Diese beträfen keinesfalls nur das Binnenleben der Gesellschaft:
Denn diese Bewegung wird in ihren tiefsten Teilen nicht durch diejenigen ihre Geltung in der Welt erlangen, die nur die Tatsachen der höheren Welt hören wollen, sondern durch solche, welche die Geduld besitzen, in eine Gedankentechnik einzudringen, die einen realen Grund für ein wirklich gediegenes Arbeiten schafft, die ein Skelett schafft für das Arbeiten in der höheren Welt. […] Es ist natürlich bequemer, mit ein paar mitgebrachten Begriffen alles, was uns als höhere Wirklichkeit entgegentritt, begreifen zu wollen, als eine gediegene Fundamentierung in der Begriffstechnik zu schaffen; aber was sind die Folgen davon?[20]
Das von ihm Jahre darauf als sein Vermächtnis den Mitgliedern der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft überantwortete Statut spricht dann auch eine Sprache, in der die von dem Begründer an diese – und insbesondere die Hochschulangehörigen unter ihnen – gestellten Anforderungen erkenntnismethodischer Art überdeutlich vernehmbar sind.
Die alten Mysterien schweigen
In den Augen Rudolf Steiners bildete die sogenannte Weihnachtstagung den Grundstein der von ihm vor einem Jahrhundert begründeten Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, deren Herz die in drei Klassen gegliederte Freie Hochschule für Geisteswissenschaft mit ihren elf Fachsektionen sein sollte.[21] Bis heute führt die Weihnachtstagung im Bewusstsein einiger Mitglieder ein hybrides Dasein. Gelegentlich noch zu beobachtende, aber schon im Rückgang begriffene Usancen der Mystifikation stehen Auffassungen gegenüber, die ein rigoroses, ja unumkehrbares »Scheitern« der mit der Weihnachtstagung verbundenen Intentionen Rudolf Steiners postulieren. Manche Autoren stellen sogar das Fortbestehen der 1923/24 begründeten Hochschule über den Tod des Urhebers hinaus in Abrede,[22] während andere wiederum ihre Hauptaufgabe in der Rezitation und Meditation der inzwischen frei zugänglichen Vorträge und Mantren der Ersten Klasse erblicken. Der von Rudolf Steiner erhobene Wissenschaftsanspruch aber gerät in beiden Fällen gegenüber dem legitimen Interesse von Mitgliedern, esoterische Inhalte ehrfürchtig aufzunehmen und meditativ zu bearbeiten, ins Hintertreffen. Die sich darin abzeichnende Unverhältnismäßigkeit schafft nun aber Probleme. Denn von dem ursprünglichen Impuls des Begründers, eine Gesellschaft und Hochschule zu schaffen, deren Mitglieder eine »Wissenschaft von der geistigen Welt« beherzigen, indem sie die Methodologie Goethes/Steiners – wie es in dem von ihm formulierten Gründungsstatut heißt – zum »Mittelpunkte ihrer Bestrebungen« machen, ist bisweilen nur eine Meditationsschule für esoterisch musikalische Anthroposophen geblieben.
Die einseitige Konzentration auf das Studium der Inhalte der Ersten Klasse innerhalb der Hochschule sowie der Vortragszyklen Steiners in den Zweigen der Gesellschaft schuf die Situation, dass damit die zeitgemäße »Pflege« der Geisteswissenschaft und die »Förderung« von Hochschul-»Forschung« – beides laut Statut die Kernaufgaben der Mitglieder – eine unvorteilhafte Schlagseite erhielten. »Geistige Forschung« wird, wenn überhaupt, zudem häufig nur in spezialisierter Form innerhalb der Fachsektionen der Hochschule betrieben. Die um »Voraussetzungslosigkeit «[23] bemühte Grundlagenforschung aber, welche allein den Anschluss an den heutigen Stand der westlichen Bewusstseinsentwicklung gewährleisten könnte, das hermeneutische Aufschließen der erkenntniswissenschaftlichen Schriften Rudolf Steiners und die damit einhergehende Erarbeitung der seinen Werken zugrunde liegenden Methode also, führen demgegenüber ein randständiges Dasein.
Dabei handelt es sich hier um den Generalschlüssel zum Verständnis der Anthroposophie, ohne dessen Aneignung und sichere Handhabe das eigene Streben und Tun Gefahr läuft, abwegig zu werden. Denn wer sich, so lässt sich dem Statut von 1923/24 entnehmen, in den erkenntnismethodischen »Vorstudien« nicht genauso sicher zu bewegen vermag wie ein Naturwissenschaftler in seiner Disziplin, dem spricht der Verfasser das »kompetente Urteil« über die Inhalte seiner Veröffentlichungen ab. Wissenschaftspflege und Hochschulforschung sollten infolgedessen das Fundament bilden, auf dem der neue Gesellschaftsbau aufruht – und nicht in die Peripherie eines sich in Vielgeschäftigkeit oder der Suche nach äußeren Erfolgserlebnissen verausgabenden Binnenlebens abgedrängt werden. Die »Pflege einer solchen Wissenschaft«, die der »heutigen Zivilisation« fehle, schließt auch die Bereitschaft von anthroposophisch orientierten, »Forschung« betreibenden Hochschulangehörigen ein, den aktuellen, nach dem Tod Rudolf Steiners von einzelnen seiner begabten Schüler geleisteten Forschungsstand zur »seelischen Beobachtung nach naturwissenschaftlicher Methode« kennenlernen zu wollen. Andernfalls liefe die Anthroposophie Gefahr, die wohl einzige Wissenschaft in rund 2500 Jahren europäischer Geistesgeschichte zu werden, deren Repräsentanten den nach dem Tod des Begründers geleisteten Forschungen ihr Interesse versagen und damit ersterer den von Aristoteles, Goethe und anderen bereiteten, in Entwicklung befindlichen bewusstseinsgeschichtlichen Nährboden entziehen.[24]
Woran krankt die anthroposophische Bewegung?
Gerade was den Schutz des sich – darin dem physisch-urbildlichen Stiftungsmysterium der christlichen Religion folgend – freiwillig und »nackt« dem Denken von Menschen ausliefernden Wesens Anthroposophie betrifft, ist es nach meiner Überzeugung unerlässlich, sich um die Schaffung eines gemeinsamen, eine seelisch-geistige Hülle bildenden Bewusstseins zu bemühen.[25] Die mit der Abwesenheit eines solchen verbundene Tragik der Anthroposophischen Gesellschaft stand Rudolf Steiner im Vorfeld der Weihnachtstagung deutlich vor Augen, als er die Frage an die Mitglieder richtete: »Wäre es nicht möglich, daß eben auch mit den Bedingungen, unter denen die Anthroposophische Gesellschaft in die Welt treten sollte, daß auch mit diesen Bedingungen ein solches Gesellschaftsbewusstsein erwachsen könnte?« Seine Antwort fiel ernüchternd aus: »Gerade auf diesem Felde läßt ja die Anthroposophische Gesellschaft insofern noch viel zu wünschen übrig, als sie in Bezug auf die Bildung eines Gemeinschaftskörpers, eines eigenen Gesellschafts- Ichs, nicht einmal noch in den Anfängen steht.«[26]
Gilt Steiners Charakterisierung dieses Mankos, dieser »Leerstelle« auch heute noch – oder ist die »Bildung eines Gemeinschaftskörpers « nach den Jahrzehnten teils schwerwiegender Konflikte bis hin zu Ausschlüssen, wie sie die Anthroposophische Gesellschaft vor allem in den 1930er-Jahren schmerzlich durchlebte, zwischenzeitlich vorangeschritten? Vorausgesetzt, man versteht unter dem anzustrebenden »Gemeinschafts- Ich« nicht ein sich aus dem Verzicht auf individuelle Urteilsbildungen ergebendes »Menscheln«, dessen Befürworter dem Ideal einer möglichst raschen, damit aber unwahrhaftigen Harmoniesuche huldigten, statt Gemeinschaft auf Augenhöhe in einem Erkenntniswettstreit um die umfassendere Einsicht zu suchen, wäre ein solcher Optimismus sicherlich verfrüht: Denn ein Jahrhundert nach ihrer Inauguration steht die Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft – von den Töchtern gar nicht erst zu sprechen – noch immer wie ein löchriger, in zahlreiche Cliquen, Projekte und Sonderbestrebungen zerfaserter Organismus in der Landschaft – ohne ein in sich gegründetes Gesellschafts-Ich. Diese Situation hängt meines Erachtens mit der verbreiteten Angewohnheit zusammen, das unübersichtliche Werk Rudolf Steiners als Steinbruch für allerlei ehrenwerte, aber das Wesentliche vernachlässigende Bestrebungen zu nutzen, statt sich an den Leitsätzen des von diesem den Mitgliedern anvertrauten Gründungsstatuts zu orientieren. Die während der Covid-19-Pandemie gehäuft auftretenden Medienangriffe ließen sich, was die den anthroposophischen Aktivitäten und Einrichtungen entgegenschlagende »Verständnislosigkeit« ihrer Urheber angeht, somit auch als ein Spiegelbild des porösen Binnenzustandes dieser Bewegung lesen, einer Bewegung, die nach außen oft ein völlig konfuses Bild dessen vermittelt, was eine »anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft« bedeuten könnte. Vermehrt tauchte in meinem Innern gerade in diesen Jahren die – auch an mich gerichtete – Frage auf: Kann Verständnis anderer erwarten, wer die Grundlagen einer Weltanschauung, für die er eintritt, selbst nicht oder eben nur unzureichend durchschaut?
Auf den damit berührten esoterischen Zusammenhang richtete Rudolf Steiner nur wenige Monate vor der Weihnachtstagung sein Augenmerk, als er die Mitglieder zu einem »anderen Lesen« der ›Philosophie der Freiheit‹ und damit zum Ernstnehmen der Grundlage, auf dem seine geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse »ruhen«, ermutigte. Wenn dieses »andere Lesen« unterbliebe, gab er in dem am 6. Februar 1923 gehaltenen Vortrag zu bedenken, dann »muss die Anthroposophie auf dem Umwege durch die Anthroposophische Gesellschaft von der Welt ja gänzlich missverstanden werden.« Die Folge seien »Konflikt über Konflikt«.[27]
Der Schutzgedanke und die Gründungsstatuten als das Vermächtnis Rudolf Steiners
Nach der Überzeugung des Begründers kann Anthroposophie nicht losgelöst von ihren Wurzelgründen authentisch gepflegt und repräsentiert werden, weshalb er das Abpflücken einzelner Reben vom Saft spendenden Weinstock, das Lossagen der Töchter von der Mutter mit großer Sorge betrachtete, sofern dieses damals auf einigen Gebieten der Pädagogik, der Medizin, des Einsatzes für die Dreigliederungsidee oder für den erneuerten Kultus der Christengemeinschaft zu beobachten war.
Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass manche heute als »anthroposophisch« geltende Gründungen mit einer bisweilen chamäleonartigen Fähigkeit zur Anpassung an die Bio-, Nachhaltigkeits-, Pädagogik- und Ganzheitlichkeitstrends der Gegenwart öffentliche Aufmerksamkeit erzielen und somit vermehrt ins Blickfeld der Medien geraten, muss die Frage gestattet sein, ob es sich bei manchen dieser unbestreitbaren Erfolge nicht auch um Pyrrhussiege handelt.
Die Mahnung Steiners, dass ohne eine entsprechende, solche Gründungen kontinuierlich begleitende Substanzbildung die Anthroposophie der Gegenwartszivilisation als ein abzuweisender Fremdkörper gilt, wird vermutlich nicht durch die x-fachste Gründung einer Waldorfschule, die erfolgreiche Vermarktung wohlschmeckender Demeteräpfel oder den Einsatz für ein »bedingungsloses Grundeinkommen« zu entkräften sein. Denn sie zielt im Kern auf die kontinuierliche »Pflege« des den geisteswissenschaftlichen Mitteilungen zugrunde liegenden Nährbodens und damit auch den verantwortungsbewussten Umgang mit dem aus diesem hervorgegangenen ideellen Erbe. Daher sollte gemäß Steiners Willen auch in jeden seiner veröffentlichten Vortragszyklen ein entsprechend bewusstseinserweckender Vermerk gedruckt werden. Diesem zufolge werde niemandem ein »kompetentes Urteil« über die Inhalte der »Wissenschaft des Geistigen» zugestanden, welcher nicht die von der Goetheanum-Hochschule »geltend gemachte Vor-Erkenntnis durch sie oder auf eine von ihr selbst als gleichbedeutend anerkannte Weise erworben hat. Andere Beurteilungen werden insofern abgelehnt, als die Verfasser der entsprechenden Schriften sich in keine Diskussion über dieselben einlassen.«[28] In diesem Passus sahen manche Kritiker einen Beleg für einen angeblichen Dogmatismus Rudolf Steiners. Das Null-Toleranz-Gebot, sofern dieses nicht im Sinne einer machtorientierten Durchsetzung ungerechtfertigter Ansprüche auf Deutungshoheit missbraucht wird, weist aber nur auf das Ideal einer jeden empirischen Wissenschaft hin, dass die in ihr Tätigen das methodische Handwerkszeug zu beherrschen lernen, bevor sie in eine Diskussion über Inhalte eintreten, die ihnen nicht vollständig durchsichtig sind und damit unverständlich bleiben müssen.
Innerhalb der gedankenkünstlerischen Komposition der Weihnachtstagungsstatuten nimmt der Paragraf 8 mit dem sogenannten Hochschulvermerk – den abzudrucken der Rudolf Steiner Verlag bis heute für verzichtbar hält[29] – eine Mittelstellung ein, um die sich alle weiteren Leitsätze gruppieren. Es liegt nahe, dass diese Gliederung von Rudolf Steiner nicht rein zufällig gewählt wurde. Die formale Gestaltung sollte offenbar die Bedeutung, die er dem Paragrafen 8 beimaß, unterstreichen. Denn dieser dient nicht nur dem Selbstschutz von Anthroposophen vor unrechtmäßiger Inbesitznahme eines sich der eigenen Beobachtung entziehenden fremden Wissens und darauf gestützten assoziativ gebildeten Vorstellungen und Urteilen, sondern zugleich dem Schutz der Gemeinschaft nach innen und außen.[30] Das Gründungsjubiläum der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft könnte daher auch ein Anlass sein, sich auf den Inhalt der von dem Urheber vermächtnishaft hinterlassenen Statuten neu zu besinnen und hieraus entsprechende Konsequenzen für den Umgang mit anthroposophischen Forschungsaufgaben zu ziehen. Denn die Statuten haben ein Jahrhundert nach ihrer Niederlegung nichts an Relevanz für eine zeitgemäße Bewusstseinsbildung eingebüßt. Im Gegenteil: Ihr Inhalt erscheint heute aktueller denn je.[31]
Ralf Sonnenberg, geb. am 6. Januar 1968 in Münster. Studium der Neueren Geschichte, Religionswissenschaft und Philosophie in Marburg und Berlin. Von 2001 bis 2007 Redakteur der Zeitschrift »die Drei«. Der Autor verschiedener methodischer und zeitgeschichtlicher Beiträge arbeitet seitdem als selbstständiger Wissenschaftslektor, Publizist und Historiker.
[1] George F. Kennan: ›The Decline of Bismarck’s European Order. Franco-Russian Relations 1875-1890‹, Princeton 1979, S. 3.
[2] Rudolf Steiner: ›Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung‹ (GA 4), Dornach 1992, S. 9.
[3] Ebd., Hervorhebung im Original.
[4] A.a.O., S. 167f. Hervorhebung im Original.
[5] Lorenzo Ravagli: ›Selbsterkenntnis in der Geschichte. Anthroposophische Gesellschaft und Bewegung im 20. Jahrhundert – Band 1: Von den Anfängen bis zur zweiten großen Sezession 1875- 1952‹, Sauldorf-Roth 2020; ›Band 2: Vom Bücherkonflikt zur Konsolidierung des Gründungsmythos 1953-1982‹, Sauldorf-Roth 2021; ›Band 3: Vom Mythos zur Verfassungskrise 1983-2000‹, Sauldorf- Roth 2022.
[6] GA 4, S. 115.
[7] A.a.O., S. 9.
[8] Ebd.
[9] Vgl. ders.: ›Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung‹ (GA 2), Dornach 2009.
[10] A.a.O., S. 11.
[11] Vgl. ders.: ›Die Konstitution der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft‹ (GA 260a), Dornach 1987.
[12] Ders.: ›Die Erkenntnis- Aufgabe der Jugend‹ (GA 217a), Dornach 1982, S. 23.
[13] Ders.: ›Der Goetheanumgedanke inmitten der Kulturkrisis der Gegenwart‹ (GA 36), Dornach 1979, S. 328.
[14] Zu dieser nach wie vor aktuellen, wenn auch nicht zu verallgemeinernden Problematik bezog in den letzten Jahren mehrmals Peter Heusser vor dem Hintergrund einiger im Umgang mit anthroposophischen Natur- und Humanwissenschaftlern gesammelten Erfahrungen Stellung. Vgl. Peter Heusser: ›Goetheanismus, Erkenntniswissenschaft und moderne Naturwissenschaft‹, in Friedrich Edelhäuser, Ruth Richter & Georg Soldner (Hrsg.): ›Goetheanismus und Medizin‹, Dornach 2022, S. 15-31.
[15] Vgl. Peter Selg: ›Die Eröffnung des Goetheanum und die Diffamierung der Anthroposophie‹, Dornach 2021, S. 11-91.
[16] Rudolf Steiner: ›Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1923/24‹ (GA 260), Dornach 1994, S. 92.
[17] Ders.: ›Die Weltgeschichte in anthroposophischer Beleuchtung und als Grundlage der Erkenntnis des Menschengeistes‹ (GA 233), Dornach 1981, S. 142.
[18] Ders.: ›Mein Lebensgang‹ (GA 28), Dornach 1983, S. 292ff.
[19] Ders.: ›Die Anthroposophie und ihre Gegner 1919-1921‹ (GA 255b), Dornach 1982, S. 353.
[20] Ders.: ›Philosophie und Anthroposophie. Gesammelte Aufsätze 1904-1923‹ (GA 35), Dornach 1984, S. 24.
[21] Vgl. Herbert Witzenmann: ›Die Prinzipien der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft als Lebensgrundlage und Schulungsweg‹, Dornach 1984 sowie ders.: ›Idee und Wirklichkeit einer Freien Hochschule für Geisteswissenschaft‹, Dornach 1987.
[22] So etwa Gerhard von Beckerath: ›Rudolf Steiners Leidensweg. Sein Schicksal mit der Anthroposophischen Gesellschaft‹, Dornach 2011, S. 231. – Eine diametral entgegengesetzte Auffassung vertrat Herbert Witzenmann in dem sogenannten »Bücherstreit« der späten 1960er und der 1970er Jahre. Witzenmanns Votum, die von der Rudolf Steiner Nachlassverwaltung herausgegebenen Vortragszyklen nicht am Goetheanum verkaufen zu lassen, solange die Editoren die Fortexistenz der Hochschule nach dem Tod Rudolf Steiners in Abrede stellten, entsprang einer Praxis, Ideelles nicht operational-nominalistisch im Dienste einer unwahrhaftigen Harmoniesuche, sondern es geistrealistisch aufzufassen. Vgl. Reto A. Savoldelli: ›Zur Tätigkeit von Herbert Witzenmann im Vorstand am Goetheanum 1963-1988‹, 3 Bde., Basel 2017.
[23] Zur methodischen Klärung dieses vielschichtigen, daher oft missverstandenen Begriffs siehe in bis dato unübertroffener Gründlichkeit Herbert Witzenmann: ›Die Voraussetzungslosigkeit der Anthroposophie. Eine Einführung in die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners‹, Stuttgart 1986.
[24] Vgl. zu diesem Aspekt Herbert Witzenmann: ›Goethes universalästhetischer Impuls. Die Vereinigung der platonischen und aristotelischen Geistesströmung‹, Dornach 1987.
[25] Elementare Einsichten zum Schutzgedanken verdanke ich dem Inhalt eines fast unbekannten Aufsatzes von Herbert Witzenmann: ›Die »Prinzipien« Rudolf Steiners in ihrer spirituellen und sozialen Bedeutung‹. Sonderdruck aus ›Mitteilungen des Arbeitskreises zur geistgemäßen Durchdringung der Weltlage‹, Nr. 47, 48 und 49/50, Dornach 1978.
[26] Rudolf Steiner: ›Die Geschichte und Bedingungen der anthroposophischen Bewegung im Verhältnis zur Anthroposophischen Gesellschaft‹ (GA 258), Dornach 1981, S. 27.
[27] Ders.: ›Anthroposophische Gemeinschaftsbildung‹ (GA 257), Dornach 1989, S. 58. Die naheliegende, zu hermeneutischen Forschungen einladende Frage, worin dieses »Andere« des »Lesens« eigentlich bestehe, kann an dieser Stelle nicht vertieft werden. Einiges Anregende hierzu findet sich etwa bei Rüdiger Blankertz: ›Rudolf Steiner, die Weltereignisse – und unsereins. Die »ungeheure Pflicht« der Anthroposophen in der Pandemie des verwahrlosten Denkens‹, Ossingen 2023, S. 35-239. Weiteres auch bei Ralf Sonnenberg: ›Was ist Goetheanismus, was die Esoterik der Anthroposophie? Neuere Studien zur ‹Philosophie der Freiheit› Rudolf Steiners – und das Erwachen aus einer kulturoptimistischen Illusion, in: die Drei 2/2023, S. 57-68.
[28] GA 260, S. 52.
[29] Da eine Formulierung wie »die von dieser Schule geltend gemachte Vor-Erkenntnis« heute vielfach nicht mehr als Verweis auf die erkenntnismethodische Grundlagenarbeit verstanden wird und diese innerhalb der Goetheanum-Hochschule nur marginal stattfindet und von dieser somit nicht repräsentiert wird, empfiehlt es sich allerdings, den ursprünglichen Wortlaut des Hochschulvermerks den Gegebenheiten so anzupassen, dass Anspruch und Wirklichkeit deutlicher unterschieden werden können.
[30] Vgl. Herbert Witzenmann: ›Die Prinzipien der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft als Lebensgrundlage und Schulungsweg‹, Dornach 1984, sowie Lutz Liesegang: ›Für Angehörige der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Zum Verständnis der Hochschulidee‹, Berlin 2020, beziehbar über vorstudium-berlin@ gmx.net.
[31] Vgl. hierzu ausführlicher Ralf Sonnenberg: ›Anthroposophie in der öffentlichen Kritik. Zur Aktualität eines Vermächtnisses Rudolf Steiners‹, in: ›Anthroposophie‹ Johanni 2023, S. 97-108. Online: https://www.anthroposophische-gesellschaft.de/blog/anthroposophie-in-der-oeffentlichen-kritik.