Thementag zum 90-jährigen Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland durch das Nazi-Regime
Vorsicht bei Waldorfschulen, Demeter-Lebensmitteln und Weleda-Kosmetik! Denn deren Inspirator Steiner war ein Rassist und seine Anthroposophie ist eine die Demokratie untergrabende Weltanschauung, die zur Kollaboration mit den Nazis geführt hat! Dieser Topos ist zurzeit gesellschaftlich gesetzt und macht anthroposophischen Lebensfeldern hie und da das Leben schwer. Belastbare Fakten hierzu suchte man bis vor Kurzem vergeblich. Ohnehin ist es schwierig, aus heutiger Sicht zu Urteilen über das Verhalten der Menschen zu kommen, die ihre Ideale in einem totalitären Regime leben wollten. Haben sich anthroposophisch motivierte Menschen anders verhalten in dieser von vielen Deutschen mitgetragenen Zustimmungsdiktatur? Waren sie einverstanden, haben gar kollaboriert?
Pixabay: Konzentrationslager, Dachau, Geschichte. Neue wissenschaftliche Studien als Grundlage
Gut also, dass sowohl die Demeter-Organisationen wie auch die anthroposophischen Medizinerinnen und Mediziner vor einigen Jahren die Initiative ergriffen haben und umfangreiche wissenschaftliche Studien zur Historie auf den Weg brachten, die diesen Fragen nachgehen. Ergänzt um eine aktuelle Studie der Gedenkstätte Dachau zum dortigen „Kräutergarten“ im KZ, gab es so hinreichend Grundlagen aus der aktuellen Forschung, um darüber einen ganzen Tag lang und öffentlich im anthroposophischen Kontext zu sprechen: Der 1. November 2025 schien für diese Premiere besonders geeignet, war doch an diesem Tag vor 90 Jahren die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland durch das Nazi-Regime verboten worden.
Auf Einladung der Anthroposophischen Gesellschaft Deutschlands und des Demeter-Bundesverbandes folgten im Stuttgarter Rudolf-Steiner-Haus gut dreißig Menschen den Beiträgen und Podiumsgesprächen, die sich den Erkenntnissen der aktuellen Publikationen zur Biodynamik bzw. zur anthroposophischen Medizin und Weleda in der NS-Zeit sowie den Konsequenzen daraus widmeten. Gerhard Stocker, Generalsekretär der AGID, wies eröffnend auf das aktive Ringen um Freiheit und Handlungsfähigkeit als einen Weg hin, Individualisierung in Zeiten der Kollektivierung zu wahren.
Zum Auftakt stellte Dr. Jens Heisterkamp die Historie der Veröffentlichungen zu möglichen Verflechtungen von Anthroposophen und dem NS-Regime dar: Die kritischen Fakten ‒ die Menschenversuche des Arztes und Anthroposophensohnes Sigmund Rascher oder die gärtnerische Forschung des Biodynamikers Franz Lippert im KZ Dachau ‒ waren ja schon 40 Jahre bekannt. Dies offenbart auch Versäumnisse seitens der anthroposophischen Einrichtungen: Weder waren alle Anthroposophinnen und Anthroposophen Widerstandskämpfer oder NS-Kritiker, noch war die eigene Aufarbeitung dieser historischen Phase hinreichend. Kein Wunder, dass sich so immer wieder Kritik entzündet. Verwunderlich ist jedoch, dass die Kritik dazu nur weitere Details, aber nichts wirklich Neues aufbietet. Die Frage an die anthroposophische Bewegung aber bleibt, warum es damals nicht mehr Distanz oder Widerstand gab seitens einer Gemeinschaft, deren höchstes Anliegen, eine neue Spiritualität, nur in Freiheit gedeihen kann.
Anthroposophinnen und Anthroposophen zwischen Naivität und Anpassung
Mit zwei Podien bot die Veranstaltung Gelegenheit, dieser Frage nachzugehen. Anthroposophische Landwirte bzw. Mediziner unterschieden sich in ihrem Organisationgrad deutlich, wie Meggi Pieschel, Mitverfasserin der Studie zur Biodynamik, und Matthias Mochner, Mitautor der Studienreihe zur anthroposophischen Medizin, im Gespräch mit Michael Olbrich-Majer vom Demeter e. V. herausarbeiteten. Die Anpassungsstrategien dieser anthroposophischen Praxisfelder im Dritten Reich waren denn auch verschieden. Waren die anthroposophisch arbeitenden Medizinerinnen und Mediziner nur teilweise und nur lose miteinander vernetzt, machten die auch öffentlich in Erscheinung tretenden Biodynamikerinnen und Biodynamiker die vom Regime verordnete Gleichschaltung mit und integrierten sich strukturell. Trotzdem wurden biodynamische Institutionen bereits 1934 in Thüringen verboten und konnten in den Folgejahren nur aufgrund der schützenden Hand des Führerstellvertreters Rudolf Heß ungehindert weiterarbeiten. Durch ihre klare Ablehnung der Agrarchemie hatten sie sich einerseits mächtige Feinde geschaffen, andererseits bei den konkurrierenden NS-Institutionen auch Interesse geweckt. Die biodynamische Führung wusste dies zum Ausbau biodynamischer Aktivitäten zu nutzen, bis hin zu offiziellen Vergleichsversuchen.
Die anthroposophischen Mediziner und Medizinerinnen dagegen waren individuell auf sich gestellt. Zudem fand ihre Arbeit keine Resonanz bei Institutionen des NS Regimes, anders als die der Biodynamiker und Biodynamikerinnen. Auch die anthroposophische Leitung in Dornach war zerstritten in der Frage, wie sie sich zum Regime verhalten sollte: Ita Wegman (übrigens auch Albert Steffen) erkannte rasch das Wesen des Nationalsozialismus und betätigte sich als Fluchthelferin, während der restliche, eher mit sich selbst beschäftigte Vorstand nach Arrangements suchte, zumal nach dem Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft 1935. Verbot und Begründung machen nebenbei bemerkt deutlich, dass sich das NS-Regime darüber im Klaren war, wie sehr anthroposophische Ideale wie z. B. der Wert des Individuums im Gegensatz zur NS-Ideologie standen, ja als „staatsgefährdend“ eingestuft wurden. Entsprechend wurden die Biodynamiker und Biodynamikerinnen von der Gestapo bzw. vom Sicherheitsdienst flächendeckend überwacht, wie mehr als 10.000 Seiten Akten belegen. Und dennoch gab es die Zusammenarbeit im Alltag, wurde der Olympiarasen in Berlin 1936 mit biodynamischen Präparaten versorgt und einzelne Ärzte behandelten NS-Granden.
Aufschwung, Verbot, Kollaboration
Eine neue Dynamik ab 1939 stellte im zweiten Podium Dr. Susanne zur Nieden, Mitautorin der Studie zum Biodynamischen, fest: Der Stickstoffbedarf für Kriegszwecke verstärkte das Interesse einiger führender NS-Leute am Biodynamischen, das ja selbst für seinen Dünger sorgt. In der Folge kam es zu Besuchen auf dem Demeter-Hof Marienhöhe, wurde der Kauf eines Hauses in Bad Saarow unterstützt, und Erhard Bartsch, Leiter des biodynamischen Reichsverbands, entwarf ein Siedlungskonzept, das in den eroberten Gebieten angewendet werden konnte. Der Aufschwung wurde jäh beendet durch das Verbot biodynamischer Aktivitäten 1941, eine Folge des Machtkampfes im Regime. Bereits im „Schlüsseljahr“ 1940 hatte auch die SS auf Anweisung von Heinrich Himmler, dem SS-Reichsführer, mit der biodynamischen Bewirtschaftung eines Teils ihrer Güter begonnen: Test für den Generalplan Ost. Im Dachauer KZ ließ die SS zu Heilkräutern und biodynamischen Maßnahmen forschen, wofür sie auch Biodynamiker zur Mitarbeit gewannen. Doch auch wenn Teile des Regimes das Biodynamische als „lebensgesetzliche“ Landwirtschaft für ihre Zwecke nutzen wollten, setzte das Regime insgesamt klar auf industrielle Landwirtschaft.
Und heute?
Was können wir Anthroposophen und Anthroposophinnen aus dieser Vergangenheit lernen?, fragte Matthias Niedermann von der AGID seine Podiumsgäste. Wolfgang Müller, Autor populärer Bücher zur Anthroposophie und zuletzt zu Steiner, konstatierte die Verführbarkeit der Anthroposphen, die sich hier wenig vom Schnitt der Bevölkerung unterschieden hätten, und die Lebenslüge, zwischen guten Nazis und bösen Nazis zu unterscheiden. Da fehlte das klare Koordinatensystem, zentrale anthroposophische Werte wurden zugunsten des Überlebens von Institutionen ausgeblendet. Doch: „Wir haben immer eine Wahl.“ Das gelte auch für heute.
Der ehrliche Blick auf die Vergangenheit sei dafür Voraussetzung, so Michael Blume, Beauftragter der Stuttgarter Landesregierung gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben. Er hält übrigens Steiner trotz einzelner Äußerungen nicht für einen Rassisten oder Antisemiten, was er auch vertrete, wenn er auf die Anthroposophie angesprochen werde. Mit den Studien sei es nicht getan, mit diesen Themen sollten die Anthroposophinnen und Anthroposophen in den Dialog auch nach außen gehen: Denn die auch heute relevante Frage sei, wie eine individualistische Weltanschauung sich von einer kollektivistischen überrollen lasse. Hieraus ließe sich eine positive Erzählung und auch ein pädagogisches, Menschen stärkendes Angebot entwickeln. Auf Niedermanns Frage, wie die Fehler dieser Zeit zu heilen seien, verwies er auf die Aufrichtigkeit beim Erinnern. Jens Heisterkamp brachte da die Kunst ins Spiel, um der anthroposophischen Erinnerung und Auseinandersetzung eine Form zu geben.
Was bleibt?
Der Blick auf diese Zeit und das kollaborative Verhalten mancher unserer Vorgängerinnen und Vorgänger in den anthroposophischen Lebensfeldern macht nach wie vor betroffen, wiewohl wir nicht in ihren Schuhen steckten. Der Demeter-Vorstand hatte sich letztes Jahr deutlich davon distanziert, auch vom (rechtlich erforderlichen) Ausschluss von Juden und Jüdinnen aus dem biodynamischen Reichsverband. Bei manchen Akteuren fragen wir uns weiterhin: Warum? Wie konntest Du wegschauen? Dass eine Aufarbeitung so lange auf sich warten ließ, wird uns des Öfteren vorgehalten. Aber dafür brauchte es erst entsprechende Ressourcen, und auch ein Bewusstsein. Was folgt für das Verhältnis von Anthroposophie und Politik heute? Lässt sich das eingangs erwähnte öffentliche Narrativ überhaupt noch korrigieren? Gemeinsame und nachhaltige Aktivitäten zur „Heilung“, wie Matthias Niedermann es nannte, sollten jedenfalls folgen.
Michael Olbrich-Majer
Michael Olbrich-Majer leitet die Abteilung Biodynamische Wissenskultur im Demeter e. V. und hat die Studie zur Biodynamik in der NS-Zeit koordiniert.
Literatur:
Jens Ebert, Susanne zur Nieden, Meggi Pieschel
Die biodynamische Bewegung und Demeter in der NS-Zeit.
Akteure, Verbindungen, Haltungen
Metropol Verlag, Berlin 2024
Peter Selg, Susanne H. Gross, Matthias Mochner
Anthroposophie und Nationalsozialismus.
Die anthroposophische Ärzteschaft
Schwabe Verlag, Basel 2024
Peter Selg, Susanne H. Gross, Matthias Mochner
Anthroposophie und Nationalsozialismus.
Weleda und WALA – die anthroposophischen Arzneimittelfirmen
Schwabe Verlag, Basel 2025
Anne Sudrow
Heil Kräuter Kulturen: Die SS, die ökologische Landwirtschaft und die Naturheilkunde im KZ Dachau.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2025
Marcelo da Veiga
Der ethische Universalismus und sein kulturgeschichtliches Dilemma:
Ein philosophisch-kritischer Essay unter besonderer Berücksichtigung aktueller Kritik an der Anthroposophie Rudolf Steiners.
CEST Edition, Bonn 2024
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