Überlegungen zum Stand der Klimafrage in der Gesellschaft
Von der Überwindung unserer Überforderungen.
Wir leben klimapolitisch seit etwa anderthalb Jahren, seit Beginn des Ukrainekriegs in einer neuen Zeit.[1] Wir sind in eine neue Phase getreten, zumindest was den Westen anbelangt. Wir leben seither in der Phase 4 eines gesellschaftlichen Klimaprozesses. Phase 1 – Verborgenes Wissen von Wenigen: Diese Phase begann in den 50er-/60er-Jahren des letzten Jahrhunderts und endete Anfang der 90er-Jahre. Da war die Klimafrage mehr oder weniger geheimes Wissen. Man hätte dazu etwas wissen können, wenn man Beiträge aus der Fachwelt gelesen hätte. Es war aber kein Wissen, das den gesellschaftlichen Diskurs geprägt hat.
Dann kam die Phase 2 – Abstraktes Wissen der Minderheit: Das Wissen um die Klimaproblematik war besser zugänglich, in den Medien wurde immer wieder berichtet, «Der Spiegel» hat ab und zu sogar ein Titelstück dazu {verfasst. 1992 fand die UNO-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro statt. Dabei wurden mehr oder weniger erstmalig die Themen Umweltschutz, soziale und wirtschaftliche Entwicklung gleich gewichtet und nach Lösungen für eine weltweite nachhaltige Entwicklung gesucht. Das nun zugängliche Wissen war aber für die meisten Menschen eher ein abstraktes Wissen, das keine persönliche Betroffenheit auslöste. Der gesellschaftliche Diskurs wurde immer wieder einmal angefacht, war aber nicht prägend.
Diese Phase dauerte bis 2018, bis es dann mit der Phase 3 – Empfundenes Wissen der Mitte der Gesellschaft – zu einem gewissen Wendepunkt kam, und zwar 2018, mit diesem sehr heißen Sommer, dem Beginn von Natur-Katastrophen, die von der Bevölkerung hautnah erlebt wurden, in Mitteleuropa, in Australien, in Kanada, am Amazonas. Mehr und mehr kamen die Menschen in ein phänomenologisches Erleben und damit auch in ein Empfinden der Problematik – aus einem abstrakten Wissen wurde ein Fühlen von «Das ist drängend», «Das ist verzweifelnd ». Korrelierend damit trat eine 15-jährige Schwedin in das Bewusstsein der Öffentlichkeit, die mit ihren Schulstreiks ein wirkliches Anliegen zum Ausdruck brachte. Die junge Klima-Bewegung «Fridays for Future» wurde zu einer globalen, zumindest westlich-globalen Bewegung. Das Thema war in der Gesellschaft und im Mainstream angekommen, fand fast täglich seinen Platz in den Zeitungen und wurde immer öfter auch wissenschaftlich gut beschrieben. In den USA kam 2021 ein Präsident an die Macht, der einen riesigen Klimainvestitionsfond umsetzt, die EU macht einen «New Green Deal» und in Deutschland kamen die Grünen als Teil einer Dreierkoalition an die Regierung. In diese Richtung hätte es weiter gehen können … aber wir leben im Jahr 2023 – und es geht ganz anders weiter als gedacht.
In Deutschland hat sich die politische Stimmung sehr gewandelt. Nach neuesten Umfragen sind zurzeit zwei Drittel der Deutschen gegen Klimapolitik, zumindest wenn damit irgendwelche Veränderungen verbunden sind. Das heißt zwar, dass es immer noch etwa 30% in der Bevölkerung gibt, denen das Thema ein Anliegen ist (und das passt zu meiner Wahrnehmung), aber es hat sich damit wieder etwas verändert, und das ist die Phase 4 – Peripheres Wissen mit zunehmendem Rückfall in Projektionen und Verdrängung: Das Thema war für eine kurze Zeit auch politisch ein Mitte-Anliegen. Nun ist es kein Mitte-Anliegen mehr. Das hat aus meiner Sicht mit zwei Überforderungen zu tun.
Die eine ist, dass so viele Krisen immer näherkamen und kommen. Auf zweierlei Weisen näher. Einerseits topografisch: Durch die Globalisierung gibt es immer weniger Krisen, die weit entfernt sind, sondern wir erleben uns immer klarer in Wechselwirkung mit ihnen verbunden – ganz voran in der Corona-Krise, aber auch angesichts der die Invasion Russlands in der Ukraine, die Migrationskrise und jetzt der Krieg in Nahost. In jeder dieser Krisen ist, anders als früher, spürbar: Es hat etwas mit mir zu tun durch
- die Klimaauswirkungen, die ich erlebe;
- Corona, das ich drei Jahre lang hautnah erlebt habe, egal wie ich dazu stehe;
- den Russlandkrieg: plötzlich muss man auf das Gas achten und hat Angst, dass die Energie nicht mehr reicht;
- den Nahostkonflikt, der zu einer Zunahme von rassistischen Mustern und gesellschaftlicher Spaltung führt;
- die Migrationskrise, die meine Kommune an die Grenze bringt, usw. Dieses Erleben von Nähe ist überfordernd.
Mitte?
Es ist aber auch nochmal eine andere Qualität von Nähe, die überfordert. Die Menschen sind aus meiner Sicht von ihrer physischen, energetischen, seelischen Konstitution her immer dünnhäutiger und offener. Zumindest viele Menschen. Die Dinge gehen uns wirklich mehr unter die Haut, wir empfinden sie näher an uns dran, selbst wenn sie weit weg wären. Aber sie sind uns eben durch das feine Netzwerk der Globalisierung und der Atmosphäre auch physisch näher – ein doppelter Näheeffekt also.
Was das Klimathema anbelangt, glaube ich, dass es noch eine zweite Überforderung gibt. Die ökologisch engagierten Menschen haben sich nie Illusionen gemacht, dass die anvisierte Klimaneutralität ein fast unmögliches Unterfangen ist. Trotzdem merken wir von Jahr zu Jahr mehr, wie das Thema eigentlich noch viel größer ist, als man gedacht hat – nicht nur global, sondern auch lokal in unseren Unternehmungen. Und zugleich sieht man, wie unrealistisch die wohlmeinenden Zeitpläne mit Klimaneutralität bis 2050 sind – wenn damit alles gemeint ist und nicht nur die Stromgewinnung. Darauf macht unter anderem Vaclav Smil in seinem Buch «Wie die Welt wirklich funktioniert»[2] aufmerksam. Wir sehen einen Transformations-Effekt, es geht hauptsächlich um Elektrizität. Aber 80 % der Energie, die wir verbrauchen, nutzen wir für ganz anderes: zur Gewinnung von Materie bzw. materiellen Dingen in dieser Welt. Diese 80 % liegen zu einem großen Teil auf der Ebene Stahlproduktion, Kunststoff, Dünger und Beton. Da es sich hier um materielle Prozesse handelt, ist nach gegenwärtigem Stand quasi ausgeschlossen, dass eine Klimawende bis 2045 oder 2050 geschafft werden kann.
Vielleicht stimmt das ja nicht, vielleicht ist es ja technisch machbar – hierfür bin ich nicht der Experte. Meine Expertise ist der psychologische und soziale Zugang zu der Thematik. Und da glaube ich, dass gerade mehr und mehr auch ökologisch idealistische Menschen das Empfinden haben: Es ist nicht realistisch, dass das bis 2050 so geschafft werden kann. Und damit wäre nicht nur das 1,5-Grad-Ziel von Paris verfehlt, sondern auch das 2,0-Grad-Ziel. Mit all den katastrophalen Konsequenzen, die damit verbunden wären.
Es passt zu dem Erleben von immer mehr Menschen – auch den nicht ökoogisch bewegten –, dass die Welt immer weniger verstehbar wird, immer weniger handhabbar und immer weniger sinnvoll. Und das sowohl auf die ökologischen Probleme bezogen als auch auf andere: KI, Gentechnik, Transhumanismus, Waffentechnik.
Soziologisch kann man diese Verunsicherung und Überforderung nicht nur an der Depressions- oder Burnout-Rate sehen, die in den letzten Jahren drastisch zunimmt. Woran man es soziologisch ebenfalls gut sehen kann, ist, dass die Mitte mehr und mehr wegbricht und die extremen Ränder zunehmen. Es gibt eine identitätspolitische Bewegung auf der linken und eine auf der rechten Seite. Und es gibt generell ein besorgniserregendes Anwachsen nicht nur populistischer, sondern rechtsradikaler Parteien.
Und die Mitte bricht weg, weil die drei Gruppen, die die Mitte eigentlich bilden sollen, irgendwie spüren, dass ihr Wertesystem nicht mehr trägt. Die Konservativen merken, dass die konservativen Werte der letzten 80 Jahre irgendwie nicht mehr aktuell sind und schon gar keine Zukunft schaffen. Die (Neo-)Liberalen spüren irgendwie, dass Freiheit der Märkte nicht das ist, was uns retten wird. Und die ökologisch bewegten Menschen merken, dass es noch schwerer als erwartet ist mit der Transformation und dass ein gesellschaftlicher Diskurs, in dem jeder und jede bei allem mitreden kann, ohne ein Empfinden für die Stimmigkeit der eigenen Perspektive, ziemlich destruktiv ist.
Das Wegbrechen der gesellschaftlichen Mitte korreliert aus meiner Sicht mit der individuellen Psyche. Auch hier scheint die Mitte, die dem modernen Bewusstsein Struktur und Halt gegeben hat, wegzubrechen. Was sich zeigt, ist Überforderung, Ratlosigkeit oder Leere. Psychologisch gesehen ist diese fehlende Mitte ein Paradies für Projektionen und für Schattenhaftes, das dann durchbricht.
Jetzt komme ich in dieser knappen Darstellung zu einem wichtigen Punkt. Ich habe diese Darstellung nämlich überhaupt nicht aus dem Grund gemacht, noch mehr Pessimismus und Hoffnungslosigkeit zu verbreiten. Pessimismus und Hoffnungslosigkeit haben wir genug! Deshalb ist es manchmal auch wichtig, einfach nur positive Modelle darzustellen, Hoffnung zu verbreiten und über Dinge zu reden, die gut laufen im Großen und im Kleinen in der Welt. Die gibt es ja auch.
Aber ich glaube, dass wir, wenn wir Transformationsprozesse in die Wege leiten und begleiten, uns bewusst sein müssen, wie die Situation gerade ist. Nur dann können wir realistische Hoffnung verbreiten. Ein Patient mit fortgeschrittenem Krebsleiden will von seinem Arzt nicht hören, dass dies alles letztlich nur ein Schnupfen sei. Er will aber auch nicht hören, dass die Situation hoffnungslos ist. Er sucht Hoffnung. Und wird sie bei dem Arzt finden, der versteht, was ist, die Verzweiflung spürt und mit aushalten kann und dann einen realistischen Therapievorschlag macht.
Das Beispiel hinkt, denn wir sind alle Patient/inn/en und Ärzt/inn/en in dieser Problematik. Aber diejenigen unter uns, die Transformationsprozesse begleiten – sei es in der eigenen Organisation oder beratend woanders – können dies möglicherweise besser tun, wenn sie die Herausforderungen im Sozialen und Psychologischen noch tiefer verstehen. Und hier kann ein spiritueller Schulungsweg, wie ihn die Anthroposophie oder C. G. Jung potenziell bieten, sehr hilfreich sein.
Schulungsweg
Steiner setzt in seinen spirituellen Schulungen am Ende seines Lebens (und das bedeutet die Zeit vom Ende des 1. Weltkriegs bis 1925) immer mehr beim Dunklen an, beim Abgrund, beim Schatten. Nicht um dort zu verweilen, sondern weil dort die Kraft, die Lichtqualität zu finden ist, die nötig ist, dieses Dunkle, Schattenhafte, das eben Realität ist, zu erlösen. In einer anderen Sprache ist das auch der Weg von C. G. Jung. Beide haben in ihrem Zugang die Grenze zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Innen und Außen überschritten: Der Schatten ist etwas Persönliches und gleichzeitig auch etwas Überpersönliches. C. G. Jung nennt diese Wesen im kollektiven Unbewussten die Archetypen, Steiner nennt siew die drei Tiere, die der Zeitgeist in und außerhalb von uns schafft. Diese Schattenarbeit hat aber nur einen Zweck: eigentlich Lichtarbeit stattfinden zu lassen. Um die geht es. So fordert uns diese aktuelle, vierte Phase unseres klimapolitischen Bewusstseins eigentlich dazu auf, sehr genau hinzuschauen, um nicht durch Überforderungen gelähmt zu sein, sondern die Kräfte freilegen zu können, die wir benötigen, um in die Tat zu kommen. Davor aber müssen wir eine Sprache finden, für den Abgrund und für das Licht, die zeitgemäß ist – eine Sprache, die verstanden wird. Von der Mitte. Lasst sie uns gemeinsam suchen …
Dr. med. Stefan Ruf, geb. 1969, Arzt und Psychotherapeut, Mitbegründer der Mäander-Jugendhilfe Potsdam, Autor des Buchs «Klimapsychologie. Atmosphärisches Bewusstsein als Weg aus der Klima-Krise.» Frankfurt/M. 2019.
[1] Seit 2021 arbeitet das Klima-Forum der AGiD, das Stefan Ruf mitbegründet hat, an der Frage, welchen Beitrag die Anthroposophie zur Bewältigung der Klima-Krise und damit für die notwendige Transformation leisten kann. Es arbeiten hier Forscher, Unternehmer, Stipendiaten der AGiD und Klima- Akteure zusammen. Aus dieser Initiative wird am 14./15. Juni 2024 eine öffentliche Klima-Tagung zum Thema «Menschlicher Wandel – Wie bilden wir eine Atmosphäre für die Erde» am Dottenfelderhof stattfinden. Die Tagung soll einen Anstoß zu einem grundsätzlichen Bewusstseinswandel geben, der Veränderungskraft in sich trägt. Sie ist vor allem für junge Menschen gedacht, die die Fragen um die Zukunft der Erde vertiefen und sich entsprechend verbinden wollen. Im Vorblick auf die Tagung erscheint dieses Vortragsmanuskript, in dem der Verlauf des gesellschaftlichen Wachwerdens für die Krise beschrieben wird.
[2] Vaclav Smil: Wie die Welt wirklich funktioniert. Die fossilen Grundlagen unserer Zivilisation und die Zukunft der Menschheit. München 2023.