Wie werden wir der Freiheit des Menschen in unserer Gesellschaft gerecht?
Einige Gedanken zur diesjährigen Generalversammlung in Dornach.
Fragen, Probleme, Erkenntnisse, Tendenzen und Aufgaben der großen Gesellschaft findet man auch im Kleinen, also auch in unseren anthroposophischen Zusammenhängen. In den vergangenen Jahren mussten wir uns gesellschaftlich mit Fragen nach der richtigen Gesinnung und Spaltungstendenzen beschäftigen. Einige wollten „alle Räder neu erfinden“, andere die erlebte Geschichte als einziges Richtmaß für die Zukunft ansehen. Die Generalversammlung im vergangenen Jahr, also 2023, zeichnete sich durch z. T. heftige polarisierte Positionen aus, die kaum überbrückbar zu sein schienen und für mich wenig verständlich waren. Mit gemischten Gefühlen begab ich mich in diesem Jahr auf den Weg nach Dornach, immer noch unsicher, was ich im vergangenen Jahr eigentlich aussprechen und entwickeln wollte und woran wir in diesem Jahr anknüpfen sollten. Würde es jemals einen friedlichen gemeinsamen Weg in die Zukunft geben?
Im deutschen Arbeitskollegium lautete die Devise, positiv und zuversichtlich auf das diesjährige Ereignis zuzugehen, denn die Einstellung eines jeden würde dazu beitragen, ob Produktivität oder Destruktivität überwiegen würde. Ich bemühte mich um diesen Blick, zumal ich mir im vergangenen Jahr vorgenommen hatte, durch die Entwicklung meiner eigenen Haltung einen produktiven Beitrag zu leisten. Ich muss aber zugeben, dass zunächst einmal meine Skepsis überwog.
Die Vorbereitung zur diesjährigen Generalversammlung wurde nicht wie in den vergangenen Jahren von der Goetheanumleitung und ihren Mitarbeitern allein geleistet, sondern auf unterschiedlichste Art und Weise erweitert. Es gab ein Gremium, bestehend aus einigen Mitgliedern und der Goetheanumleitung, das sich um die Gestaltung der 2½ Tage dauernden Veranstaltung bemühte. Der Gesamtentwurf bildete eine harmonische Grundlage. Inhaltliche Beiträge, Kunst und die Bearbeitung der Anträge waren so miteinander verbunden, dass möglichen Einseitigkeiten vorgebeugt wurde. Nach der Generalversammlung im vergangenen Jahr bildeten sich verschiedene Mitgliederforen für Themen, die einer gründlicheren Bearbeitung bedürfen, als es eine einmal im Jahr stattfindende Veranstaltung hergibt. Eine dieser Gruppen bearbeitete das Thema „transparente Kommunikation“ und half, die über 20 Anträge gemeinsam mit dem Vorstand und den Antragstellern für die Generalversammlung vorzubereiten. Auf diese Weise konnten einige Anträge zu Anliegen, Initiativen und konsultativ abzustimmenden Anträgen umgewandelt werden.
Die Bearbeitung der eigentlichen Anträge lief im Großen und Ganzen gesitteter ab als vormals. Dennoch reichte das Spektrum bei den Teilnehmern vom Schweigen-Können über kurze konstruktive Verbesserungsvorschläge bis zum Austragen persönlicher Konflikte auf offener Bühne, zu Auftrittsbedürfnissen und zur Befangenheit in der eigenen Idee, ohne sie ins Verhältnis zu den Mitmenschen stellen zu können. Die meisten Unwuchten wurden durch die jeweilige Moderation sachlich und achtungsvoll im Rahmen gehalten. Das Auftreten zweier Mitglieder sei hier geschildert, um das Spektrum, in dem wir uns bewegten, sichtbar zu machen: Eine junge Frau hatte gehört, dass es in der Anthroposophischen Gesellschaft Schwierigkeiten gebe. Da ihr die Anthroposophie ein großes Anliegen sei, so sagte sie, sei sie einen Tag vor der Generalversammlung Mitglied geworden. Sie stellte gleich anfangs einen Antrag auf die Vertagung eines Themas, weil sie dieses noch nicht verstehen würde. Es handelte sich um ein Thema, woran viele Menschen seit etlichen Jahren arbeiten und für dessen Weiterbearbeitung die Anerkennung der Generalversammlung wichtig war. Der Antrag der jungen Frau wurde abgelehnt. Ein älterer Herr trat auf, es ging um die Abstimmung eines Antrags, die Zeit für Debatten war eigentlich vorbei. Er wollte dennoch einen inhaltlichen Beitrag geben. Mit geradezu fanatischer Gestik brachte er zum Ausdruck, wie Steiner damals bestimmte Fragen eigentlich gemeint hätte und dass wir mit dem Studium und unserem Verständnis noch längst nicht weit genug wären, um nächste Schritte tun zu können. Dieser Herr war nach der ihm eingeräumten Redezeit kaum zu bewegen, die Bühne zu verlassen, er könne, so sagte er, noch drei Stunden weiterreden.
Geweitet wurde der Blick der Teilnehmenden durch die Berichte der Landesvertretungen oder Vorstände aus den verschiedenen Ländern und Kontinenten. Als Beispiel seien die Niederländer erwähnt, die den Saal teilnehmen ließen an dem Anfangsritual ihres Vorstands: Die fünf anwesenden Vorstände standen im Kreis, einander schweigend zugewandt. Dann drehten sie sich um, den Blick nach außen gerichtet. Das verdeutliche ihr Motto, so wurde anschließend berichtet: die Beziehung untereinander pflegen, sich aufeinander beziehen und sich vergegenwärtigen, dass die Arbeit des Vorstands eine Dienstleistung für die Mitgliedschaft in den ganzen Niederlanden ist.
Wie eine Perlenschnur reihten sich inhaltlich gehaltvolle Beiträge mit originellen Blickwinkeln und Bildern aneinander. Ich war berührt von der Fähigkeit der Redner, die eigenen, durch Anthroposophie bereicherten Erkenntnisse den Zuhörern facettenreich zur Verfügung zu stellen. Viel Kompetenz ist auch bei den am Goetheanum tätigen Menschen wahrzunehmen. Kompetenz heißt für mich, dass die Anregungen aus der Anthroposophie die eigene Tätigkeit befruchten, verbessern und die Wahrnehmungsfähigkeit für die Welt und das eigene Leben entwickeln helfen. Ein Bild unserer Zeit von Ueli Hurter sei erzählt: Wenn wir im Frühjahr unsere Saat auf den Acker ausbringen, möchten wir gerne schon am nächsten Tag das gekeimte Getreide sehen. Die Geduld und das Verständnis für die nötige Zeit von Keimung und Reifung muss gelernt sein.
Im Rückblick auf die Generalversammlung kann ich sagen, dass, wie in unserer großen Gesellschaft auch, die unterschiedlichsten Menschen und Ausdrucksweisen des Menschseins zu beobachten waren. Da gab es die engagierte junge Frau, die ohne Berücksichtigung des Gewordenen die eigenen Bedürfnisse als einzigen Maßstab einer ganzen Versammlung zugrunde legen wollte. Und es gab die Tendenz, vertreten durch den bereits erwähnten Herrn, nur das Gewordene als Messlatte für die Zukunft zuzulassen. Wie erleichternd waren die Berichte und inhaltlichen Beiträge, die von einem wachen Blick auf die Welt und sich selber zeugten. Dadurch wurde deutlich, dass es für die Anthroposophische Gesellschaft einen Weg in die Freiheit geben kann. Hohe Ideale und tiefe Abgründe liegen häufig näher beieinander, als wir zunächst annehmen würden, aber sie können durch die Erkenntnisarbeit eines jeden Einzelnen zu einem sinnvollen Ganzen verbunden werden, sofern wir uns die Zeit zum Keimen und Reifen zubilligen.
Christine Rüter | AGiD, Vorstand