„Wahrnehmung verpflichtet“
Eindrücke von der bildungsART 24, den campusA-Projekttagen im Februar 2024 in Stuttgart.
„Was vor uns liegt und was hinter uns liegt, ist nichts im Vergleich zu dem, was in uns liegt. Und wenn wir das, was in uns liegt, nach außen in die Welt tragen, geschehen Wunder.“
– Henry David Thoreau
Bei der diesjährigen bildungsART 24 im Rudolf Steiner Haus Stuttgart haben wir uns auf die Suche begeben, wie mit Anthroposophie fruchtbare und zukunftsweisende Perspektiven und Impulse gesetzt werden können und wie sie individuell den Boden für die tägliche Arbeit bilden können – sowohl beim campusA Stuttgart als auch auf verschiedenen gesellschaftlichen Gebieten wie der Wirtschaft, Kunst, Kultur und speziell der Bildung. Bei den verschiedenen Bildungspartnern des campusA – im Waldorferzieherseminar, im Priesterseminar, in der Freien Hochschule, im Eurythmeum und im Jugendseminar – wurden für ca. 250 Studierende und Auszubildende Workshops und Erlebnisräume vorbereitet zu folgenden Fragen:
- Wie wachsen Kinder zu starken Individuen heran?
- Wo finden junge Menschen eine Orientierung?
- Wie sieht zukunftsfähige Bildung aus und an welchem Ort wird sie gelehrt?
- Warum ist Eurythmie wichtig?
- Wo finde ich (m)einen spirituellen Kern?
Menschsein im 21. Jahrhundert
Stefan Holz von den Freunden der Erziehungskunst eröffnete das Mittwochspodium mit dem Titel „Menschsein im 21. Jahrhundert“ und fragte, was Menschsein im aktuellen Jahrhundert bedeutet und welche Fähigkeiten und Aufgaben die Weiterentwicklung der Menschlichkeit mit sich bringt. Als ein entscheidendes Feld stellte er die Dialogqualität heraus, nämlich wie wichtig es ist, im Gespräch zu bleiben, zu diskutieren, auf gleiche Augenhöhe zu achten und um „eine Sache“ zu ringen. Die eigene innere Haltung gegenüber allem ist wichtig und zeigt gleichzeitig, wie unterschiedlich wir sind. Denn ein Phänomen kann je nach Kontext sehr unterschiedlich gewertet werden: So freut sich beispielsweise der Skifahrer über Schnee, der Autofahrer weniger.
In der zweiten Einheit öffnete das Waldorferzieherseminar seine Türen und lud zu vielfältigen Aktivitäten wie Puppenspiele, Gruppenspiele, verschiedene Sinneserfahrungen, Zwerge basteln etc. ein. Die Teilnehmenden lernten das Tätigkeitsfeld der Waldorferzieher:innen kennen. Die Workshops zeigten auf, wie wichtig es ist, in einem zunehmend digitalen Zeitalter Angebote zu haben, die die Fantasie der Kinder anregen, zu Selbstwirksamkeit führen und eine „Hülle“ geben. Auch wurden Fragen zum Nachdenken gestellt: Wie steht es um den Erzieherberuf, wenn künstliche Intelligenz zunimmt? Was regt die Lebenskräfte an, was tun Cola und Chips?
Nachmittages lud das Priesterseminar ein. In verschiedenen Gruppen setzten wir uns mit den Themen Religion und Glaube auseinander und was es bedeutet, sich seinem Beruf zu „weihen“ und sich somit „berufen“ zu fühlen, eine Tätigkeit auszuführen.
Am Abend wurde ein ergreifendes interdisziplinäres Bühnenprojekt des Else-Klink-Ensembles aufgeführt, das Eurythmie, Sprache, Musik, Zeichnung, Licht und Projektion beinhaltete. „Geh durch. Zu dir“zeigte Zeichnungen der Ohnmacht und brachte gestammelte Worte des Künstlers und Pädagogen Johannes Matthiessen zu Gehör, der sich seiner todbringenden Krankheit Multiples Myelom gestellt hat und mit ihr einen ehrlichen und mutigen Weg gegangen ist. Gesprächsrunden im Nachtcafé rundeten den ersten Tag der bildungsART ab.
Welt gestalten mit Anthroposophie
Viele anthroposophische Impulse sind fruchtbar und erhielten in den vergangenen Jahren eine erhebliche Bedeutung. Doch an einigen Stellen ist bemerkbar, dass Anthroposophie heute andere Nuancen und Haltungen benötigt, damit sie weiterhin Zukunftskeime hervorbringen kann. Wie kann dies gelingen? Beim Donnerstagspodium waren Gäste mit innovativen Impulsen aus Bildung, Gesundheit und Wirtschaft eingeladen. Mit dabei waren: Fiona Bay (Notfallpädagogin und Krankenpflegerin), Julia Grebner (Hebamme), Jonathan Urheim (Studium Dreigliederung), Götz Feeser (Leitung Presencing Institute), Oliver Groß und Rebecca Kramer (beide Geschäftsführung der Firma Sonett) und Stefan Holz (Moderation).
„Wahrnehmung verpflichtet“ lautet ein wichtiger Grundsatz von der Firma Sonett, „für die Erde, für die Menschen und die Nachhaltigkeit auf allen Ebenen.“ Wenn Menschen die Natur und sich gegenseitig mit ihren Kompetenzen ergänzen, entstehen Synergien, die unglaublich kraftvoll sind. Dagegen tragen Macht- und Egospiele sowie Einzelgänge nicht zur gesunden Basis eines gemeinschaftlichen, gesellschaftlichen Lebens bei. Auch wurde über „Child Friendly Spaces“ gesprochen, also kindgemäße Orte, vor allem in Krisengebieten. Essenziell für diese Orte ist Rhythmus. Traumata lassen Teile von uns erstarren, sind das Gegenteil von Rhythmus. Wie sieht daher mein ureigener Rhythmus aus, in dem ich meine Kraft spüre? Finde ich Antworten in der Waldorfpädagogik?
Später öffnete die Freie Hochschule ihre Tore und in verschiedenen Workshops konnten wir unsere innere Haltung erleben, Sprachgestaltung kennenlernen sowie unterschiedlichen Klängen lauschen. Welche Qualitäten hat ein gutes Vorbild, an dem sich die Kinder ausrichten?
Nachmittags am Eurythmeum gab es zunächst für alle eine kurze Einführung. Was bedeutet es, Eurythmie zu studieren? Was will die Eurythmie? In verschiedene Arbeitsgruppen eingeteilt, hatten dann alle die Gelegenheit, selbst Eurythmie zu machen. Die Einheit wurde von der Darstellung eines eurythmischen Üb-Prozesses abgeschlossen, bei der das vierte Ausbildungsjahr zusammen mit seiner Dozentin etwas aus seiner Arbeit vorführte und mit den Teilnehmenden darüber ins Gespräch kam.
Am Abend zeigten die Teilnehmenden ihre vielfältigen multikulturellen künstlerischen Talente auf der Open-Stage des Campus-Universums.
Meine Impulse, meine Perspektiven
Beim Freitagsplenum erfuhren wir von fünf Dozent:innen des campusA, aus welchen persönlichen Impulsen heraus sie im Zusammenhang mit der Anthroposophie und in einer zunehmend verunsichernden Welt arbeiten. Was hilft ihnen bei ihrem Beruf? Der zweite Teil des Plenums befasste sich mit den individuell erfassten Zukunftsperspektiven. Eingeladen waren Podiumsgäste der campusA-Bildungpartner: Loriana Favro (Eurythmiedozentin des Freien Jugendseminars), Milan Tannert (Dozent am Eurythmeum), Ana Jincharadze (Musikdozentin der Freien Hochschule Stuttgart), Susanne Vieser (Dozentin am Waldorferzieherseminar), Mariano Kasanetz (Leiter des Priesterseminars Stuttgart) und Lukas Schaaf (Moderation).
„Meine echten Fragen sind die Götter in meinem Leben.“
— Mariano Kasanetz, Priesterseminar Stuttgart
Dieses Plenum lud dazu ein, den eigenen Lebensweg zu hinterfragen, doch auch das Grundgerüst der bildungspolitischen Landschaft. Wieso finden junge Menschen wenig bis keine Antworten innerhalb der Ausbildung, sondern verstärkt außerhalb? Als angehende Waldorferzieherin hat mich an diesem Plenum am meisten die Aussage beschäftigt, dass das Kind in sich die Zukunft trägt. Was ist die Zukunft?Und was braucht das Kind? Spannend war auch zu hören, dass heutzutage das Wirken der Eurythmie anders Einzug in den Körpern hält als früher.
Nach dem Plenum lud das Jugendseminar zu Workshops ein und die Teilnehmenden lernten den Tagesablauf, das gemeinschaftliche Miteinander sowie die vermittelnden Inhalte kennen, die auf anthroposophischen Grundlagen beruhen.
Im Zentrum des Abschlussplenums stand ein World-Café, in dem es einen regen Austausch zu verschiedenen Fragen gab. Was ist meine Essenz, die ich mitnehme? Was braucht es, um eine fruchtbare Begegnung zwischen Dozent:innen und Studierenden zu ermöglichen? Was brauchen wir, um für das 21. Jahrhundert tauglich zu sein? Hat sich durch die Tagung mein Verhältnis zur Anthroposophie verändert? Wie waren die Begegnungen mit den Menschen, mit den Ideen, Fragen, Inspirationen?
Zusammenfassend ist zu sagen, wie wichtig es ist, die Praxis zu erleben, die Anthroposophie im Alltag zu erleben, um zu verstehen. Außerdem zeigte sich, wie wichtig Räume sind, in denen Offenheit, Verständnis und Vertrauen einen (neuen) Nährboden bilden, um ein „Ich zum Du zum Wir“ erlebbar zu machen. Essenziell ist es, sich auf Augenhöhe zu begegnen und zu kooperieren. Echte Fragen zu stellen, echtes Interesse zu zeigen und echt zu kommunizieren, nicht zu bewerten und nicht mitzuschwimmen, sondern präsent zu sein. All dies setzt eine gute Beziehung zu sich selbst voraus.
Einen würdigen Abschluss bildete am Abend die künstlerische Darstellung „Der Mensch an der Schwelle“, eine Auswahl von Szenen aus den „Mysterien-Dramen“ von Steiner, aufgeführt von Studierenden des campusA in Zusammenarbeit mit dem Carl-Unger-Zweig der Anthroposophischen Gesellschaft. Diese Aufführung bewegte die Frage nach dem Menschsein im 21. Jahrhundert auf künstlerische Art ganz aus der Anthroposophie heraus und regte an, darüber nachzudenken, woher geistige Impulse kommen.
„Stellen Sie sich den großen Saal des Rudolf-Steiner-Hauses vollständig gefüllt vor. In der Mitte, auf Filzscheiben sitzend, viele studierende junge Menschen des campusA, an den Seiten, auf Stühlen sitzend, viele ältere Menschen, meist regelmäßig die Vorträge am Mittwochabend besuchend. Die „Schauspieler“, bis auf zwei alle zwischen 20 und 30 Jahre alt, großzügig gefördert vom Carl-Unger-Zweig, in eindrucksvollen Kostümen. Mit großem Ernst, deutlicher Sprache und beeindruckender Konzentration zeigten sie uns drei Bilder aus den Mysterien-Dramen Rudolf Steiners. Das Ganze war ein ermutigendes Wahrbild, wie die ältere und jüngere Generation, sich gegenseitig die „goldenen Eimer“ reichend, fruchtbar zusammen wirken können. Möge diese Kraft in den nächsten Jahren wachsen.“
– Marco Bindelli, Leiter des Jugendseminars Stuttgart, bildungsART-Team
Am Samstagmorgen lud das Organisationsteam der bildungsART zu einem Initiativen-Brunch ein, um über das Fortbestehen des Campus zu sprechen und sich darüber auszutauschen, welche Initiativen es bereits gibt und welche gestartet werden können. Auch hier gab es viele Impulse und allem voran Fragen: Was ist die neue Kraftquelle, die die jungen Menschen mitbringen? Oder: Wie müssen wir die Bildung verändern, damit ein neues „Ätherherz“, also ein neues Organ menschlicher Wahrnehmung, entstehen kann?
Autorin: Lena Reichert, angehende Waldorferzieherin, Mitglied des bildungsART-Teams
Stimmen von Teilnehmenden
„Die bildungsART hat mich vielseitig beschenkt. Ich bin dankbar für die tollen Herausforderungen, denen ich mich durch aktive Beiträge wie das Leiten eines Workshops oder das Mitspielen beim bunten Abend und beim Mysterien-Drama stellen konnte. Was ich neben Begegnungen und Erlebnissen noch mitnehme, ist u. a. die Anregung von Stefan Holz, bewusst auf meine sympathischen und antipathischen Reaktionen zu achten und wach eine Gegenbewegung zu machen, sowie sein Reflexionsansatz, und, angeregt von Mariano Kasanetz, die Frage: Was sind eigentlich meine echten Fragen?“
– Anna-Maria Sachs, Weiterbildung Sprachgestaltung (FHS)
„Für mich war es ganz wichtig, dass in den entscheidenden Momenten der bildungsART aus den Tiefen der anthroposophischen Menschenkunde geschöpft wurde und dass wir hier am Campus in Stuttgart danach streben, unser Leben und Arbeiten durch die Anthroposophie zu befruchten.“
– Benedikt Meßer, Eurythmie-Student, bildungsART-Team
Mich begeisterte bei dieser bildungsART sehr stark der Austausch in den Pausen und abends in der Cafeteria im Rudolf-Steiner-Haus. Man kam mit Menschen ins Gespräch über das gerade Erlebte, die man noch nicht kannte. Diese Momente des Austauschs haben mir gezeigt, dass die Themen der bildungsART nicht abstrakt aufgenommen wurden, sondern wirklich lebendig waren und so Begegnungen durch die Inhalte geschaffen wurden.
– Lukas Schaaf, Jugendseminar Stuttgart, bildungsART-Team
Ein besonderes und ganz herzliches Dankeschön gilt allen Förderern und Sponsoren, die die bildungsART mit Kaffee, Limonade, Snacks und Speisen unterstützt haben: Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland, Arbeitszentrum Stuttgart (AG), Carl-Unger-Zweig (AG), Mahle-Stiftung, ErdmannHAUSER, Erdi Biomarkt, BioGourmet, Spielberger Mühle, Sekem, Beutelsbacher Fruchtsäfte, Naturata, Rösterei Laufenmühle u. a.
Die bildungsART wurde vorbereitet von: Lena Reichert (Seminaristin am Waldorferzieherseminar Stuttgart), Aliki Kristalli (Priesterin der Christengemeinschaft, Stuttgart-Mitte), Sebastian Knust (Projektentwicklung Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland), Lukas Schaaf und Marco Bindelli (Assistenz und Leitung des Freien Jugendseminars Stuttgart), Benedikt Meßer (Student am Eurythmeum Stuttgart) und Marco Wink (Hausmeister am Priesterseminar Stuttgart).
Die campusA-Bildungspartner: Eurythmeum Stuttgart, Freie Hochschule Stuttgart, Waldorferzieherseminar Stuttgart, Freies Jugendseminar Stuttgart, Priesterseminar Stuttgart.