„Die Entwicklung einer neuen gesunden Mitte und die Suche nach Kraftquellen“
JAN-Treffen vom 30.05. bis 01.06.2025 mit Dr. med. Karin Michael, Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin

Noch tief berührt, voller Herzenswärme und Dankbarkeit, berichte ich vom letzten Treffen der JAN-Initiative auf Hof Wörme. Am Freitagabend lernten wir Dr. med. Karin Michael, Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin und Leiterin der Medizinischen Sektion in Dornach, kennen. Zusammen mit uns arbeitete sie über das Wochenende an dem Thema: „Die Entwicklung einer neuen gesunden Mitte und die Suche nach Kraftquellen“.
Zentrale Fragen waren, was junge Menschen in ihrer Entwicklung brauchen, um eine gesunde Mitte zwischen den oberen und unteren Wesensgliedern ausbilden zu können. Und wie sich die zunehmende seelische Not bei Kindern und Jugendlichen mit Erschöpfungszuständen, psychischen Erkrankungen, Ängsten und Depression erklären lässt? Ist sie alleine bedingt durch Krisensituationen und äußere Umstände in der Welt oder lässt sich diese tiefe innere Not noch anders erklären?
Ich möchte einen Versuch wagen, dieses schwierige und zugleich so spannende Thema zu greifen und Inhalte des Wochenendes zusammenzufassen. Karin beschrieb eine allgemeine Tendenz der Gesamtbevölkerung zur Erkrankung der menschlichen Mitte, besonders mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Zuständen der inneren seelischen Not, diese sei jedoch besonders stark bei Kindern und Jugendlichen zu bemerken. Der Mensch ziehe sich vermehrt in virtuelle Welten zurück, einhergehend mit dem Verlust der Realität und des Ergreifens eines gesunden Menschenverstandes. Eine mögliche Erklärung der starken Erkrankungstendenz im mittleren Menschen mit seinem Herz-Kreislauf- und Atmungssystem sei die Lockerung des Ätherherzens vom menschlichen physischen Herzen, so wie Rudolf Steiner es 1919 in einem seiner Vorträge beschrieb (GA 190, S. 122 ff.). Seit 1721 sei der Loslösungsprozess des Ätherischen vom physischen Herzen eingetreten und wird laut Steiner erst 2100 abgeschlossen sein. Dem voraus ging die Loslösung des Ätherkopfes vom menschlichen physischen Kopf zur Zeit der griechischen Kultur und es würden in Zukunft noch weitere Loslösungsprozesse in anderen Organen folgen. Dies beschreibt uns eine Veränderung, eine Loslösung der innigen Verbindung der Lebenskräfte mit dem physischen Leib im Laufe der Erdenentwicklung und könnte laut Karin eine Notwendigkeit der Menschheit hin zur Freiheit bedeuten. Bereits die Loslösung des Lebendigen (Ätherischen) im Kopfbereich ermöglichte uns Menschen die Entwicklung eines eigenen lebendigen Denkens aufgrund von umgewandelten Gestaltungs- und Wachstumskräften des Menschen (GA 27, S. 12). Was bedeutet diese Entwicklung nun für unser Herz? Durch die Ablösung des Lebendigen (Ätherischen) vom physischen Herzen entstehe eine größere Wachheit, mehr Bewusstsein im Herzen, und das Kind müsse lernen, ganz eigene individualisierte Kräfte auszubilden, um eine neue lebendige Mitte zu finden. Karin betont, wie wichtig hierbei die Unterstützung der Erziehenden und Lehrenden sei, dem Kind im zweiten Jahrsiebt (7 bis 14 Jahre) das richtige Atmen und den Rhythmus von Schlafen und Wachen beizubringen, so wie Rudolf Steiner es im ersten Vortrag der Allgemeinen Menschenkunde beschreibt (GA 293, S. 30 ff.). Nicht nur der körperliche Atmungsprozess, auch der Atemvorgang im Zwischenmenschlichen zwischen dem Kind und seinem Gegenüber sowie zwischen der Welt und dem Kind müsse erlernt und ausgebildet werden. Alles, was rhythmisch geschieht, sei die Grundlage für eine gesunde Mitte. Stärkend seien z. B. regelmäßige Rituale wie gemeinsame Mahlzeiten oder das Feiern von Jahresfesten sowie alles Wärmende und Hülle Gebende. Außerdem sei es wichtig, die Bewegung der Kinder zu fördern, damit sie reale Erlebnisse in der Welt und in der Natur erfahren können, auch mit dem Erleben, zu scheitern und eigene Lösungen für Probleme zu finden. Um uns neben so viel Theorie auch der eigenen Mitte zu nähern, beschäftigten wir uns mit folgenden Fragen: „Was trägt und belebt mich?“, „Was gibt mir Kraft?“ und „Was raubt mir Kraft oder schwächt mich?“ Wir teilten unsere Erfahrungen und Erlebnisse aus unserem Alltag in der Gruppe. Es entwickelten sich weitere Fragen: „Aus welchem Motiv heraus handle ich, und unterstehe ich während meines Handelns einem Zwang oder tue ich etwas aus tiefen inneren Idealen heraus?“ „Bin ich ehrlich und verbunden mit meiner eigenen Motivation?“ „Inwiefern stärkt oder schwächt mich mein Handeln?“
Am Samstagvormittag starteten wir mit einer Vertrauensübung zu zweit. Eine Person mit geschlossenen Augen wurde von einer anderen Person durch die Natur geführt. Die zweite Person lenkte ausschließlich durch leichten Druck der Hand zwischen den Schulterblättern. Es war ein Spiel zwischen gegenseitigem Wahrnehmen, Hineinspüren und Vertrauen. Was braucht es, damit die nonverbale Kommunikation funktioniert? Auf grün-blaue Karten schrieben wir ‒ aus beiden Perspektiven ‒ unsere Erlebnisse, die wir als belastend, verunsichernd und stressend erlebt haben. Es waren vor allem Missverständnisse bei den Richtungsimpulsen, die zu Verunsicherung führten, sowie Ängste durch Verlust des Kontakts mit der Hand, Verantwortung als Stressmoment und Zweifel an der Angemessenheit der eigenen Impulse. Auf orange-rote Karten schrieben wir ‒ wieder aus beiden Perspektiven ‒ diejenigen Erlebnisse, die uns ein stärkendes Gefühl gegeben haben. Hierzu zählten besonders das Erleben von Wärme und kontinuierlichem sanften Körperkontakt durch die Hand am Rücken. Bei funktionierender nonverbaler Kommunikation entstanden Vertrauen, Freude und ein spielerischer Umgang. Eine klare Führung, einhergehend mit einer sanften Verbindung, ermöglichte Vertrauen, Sicherheit und die Möglichkeit eines gemeinsamen spielerischen Umgangs. Mithilfe dieser Übung entwickelten wir ein Verständnis für wesentliche Qualitäten in sozialen Kontexten. Für ein gesundes Miteinander braucht es immer die lebendige Verbindung eines klaren Wachbewusstseins mit einem loslassenden Geschehen. Denn wenn ich mich an die mich umgebenden Bedingungen anpassen kann und mich in einem lebendigen, atmenden Spielraum zwischen Wach- und Schlafbewusstsein bewegen kann, ohne dass mir meine Ich-Weite verloren geht, und ich mit mir in Kontakt bleibe, dann bin ich in meiner Kraft und habe mich meiner selbst bemächtigt.
Nach Aussage von Steiner liegen alle heilenden Kräfte ursprünglich im menschlichen Atmungssystem (GA 229, 5. Vortrag, S. 82). Dies zeigt uns, wie wichtig es ist, wieder „richtig“ atmen zu lernen. Mithilfe eines Schaubilds näherten wir uns am Nachmittag dem Aspekt der stetigen Verwandlung von Kräften in uns Menschen. Diejenigen Kräfte, die uns nähren, werden in das Atmungssystem hinaufgehoben und führen dort mit der Ein- und Ausatmung zum Erleben im Herzen, sie sind unsere Heilungskräfte. Diese wiederum werden in unsere Gedankenkräfte verwandelt, mit denen wir dann unsere Bewegungskraft steuern und in der Welt tätig werden können (GA 229, 5. Vortrag). Ein stetiges Wandeln und Walten der Kräfte arbeitet in uns Menschen, die wir alle brauchen, um ein Gleichgewicht im Denken, Fühlen und Handeln erleben zu können.
Nun kommen wir zu der Frage: Wie wird eine Idee zum Ideal? Eine Idee wird mit nährenden Kräften angereichert und durch heilende Kräfte im Atmungssystem verlebendigt, indem sie mit der Ausatmung losgelassen und mit der Einatmung wieder neu aufgenommen wird, dann kommt sie umgewandelt im Gedankenleben wieder an, wo sie den Impuls für die Umsetzung in die Tat bekommt und zum Ideal werden kann. Gar nicht so einfach, diesen komplexen Wandlungsprozess, der immer auch durch die Mitte, durch unsere Herzen geht, nachvollziehen zu können. Zumindest dort, in unseren Herzen, ist schon etwas angekommen, was auch wieder losgelassen werden darf und mit Vertrauen verwandelt und angereichert zu uns zurückkehren wird. An dieser Stelle möchte ich das Mantra zur Stärkung der Herzmitte erwähnen, das Karin für uns las, bevor wir uns am Samstagabend von ihr verabschiedeten. Ich habe es am Ende des Berichtes eingefügt.
Nun abschließend noch ein kleiner Blick auf den letzten Tag des Wochenendes. Wir vergegenwärtigten uns am Sonntagvormittag noch einmal die unglaublich gehaltvollen Inhalte der letzten zwei Tage in Dreiergruppen. Daraufhin gab es zwei intensive Gesprächsspaziergänge im Wald, bei denen es vor allem um den persönlichen Austausch ging. Der erste Spaziergang beinhaltete die Frage: „Was brauche ich, um gesund zu bleiben/zu werden?“ und im zweiten Spaziergang ging es um die Frage: „Was braucht das soziale Miteinander, damit eine gesunde Begegnung erfolgen kann?“ Alle Aspekte der Gesprächsspaziergänge schrieben wir auf bunte Karten, sammelten sie in der Mitte unseres Stuhlkreises und sortierten sie thematisch im Sinne des rhythmischen Ein- und Ausatmungsprozesses. Ein reichhaltiges, buntes Bild entstand!
In unserer Abschlussrunde teilten wir unsere Gedanken darüber, was wir von den erarbeiteten Inhalten des Wochenendes in unserem persönlichen Alltag üben und ganz konkret umsetzen wollen. Hierzu ein paar einzelne Stimmen der Teilnehmenden:
Keivan: „Ich sehe Verantwortung darin, die Ätherwachheit wahrzunehmen, Bewusstsein dafür zu schaffen und junge Menschen zu stärken.“
Tanja: „Ich möchte versuchen, mehr zu fühlen, wahrzunehmen, was ist es gerade, was braucht es, was ist gerade dran ...“
Carl: „Ich möchte etwas wirklich frei lassen und nicht nur mit angezogener Handbremse fahren.“
Theresa:„Mir ist es wichtig, auf meinen Alltag zu schauen, nach Momenten des Einatmens und des Ausatmens, ich möchte Rhythmus etablieren. Ich möchte herausfinden, welche Qualitäten ich brauche, um eine liebevolle Führungsperson für die Jugendlichen zu werden, die ich in meiner Arbeit begleite.“
Abschließend möchte ich erwähnen, dass unser Wochenende getragen war von der wunderbaren Natur. Unsere ‒ teilweise ziemlich anspruchsvollen ‒ theoretischen Einheiten verbrachten wir das ganze Wochenende über draußen zwischen den Bäumen des Waldes, begleitet von lautem Vogelgezwitscher und wärmenden Sonnenstrahlen. Auch das leckere Essen, das Nadine für uns vorbereitete, nahmen wir draußen an einer langen Tafel zu uns. Die inhaltlichen Blöcke wurden von Tanja eingeläutet mit fröhlichen Liedern, schwungvollen Kreistänzen und achtsamen Körperübungen. Auch der Sprung in die kalte Seeve und das wärmende Lagerfeuer haben nicht gefehlt. Rundum ein atmendes Geschehen!
Im Namen der JAN-Initiative ein herzliches Dankeschön an Karin Michael!
Fleur Becker
Ich denke an mein Herz
Darin ist Weltenliebe
Und Menschenstärke
Es birgt mein Ich
Das kraftvoll mich tragen soll
Durch den Weg des Lebens
In Gottes gnädigem Willen.
Rudolf Steiner