Mich beschäftigen die polarisierten und entkoppelten Gesprächsräume, in denen Sprachlosigkeit herrscht
Matthias Niedermann ist Assistent des Vorstands der AGiD und in der Öffentlichkeitsarbeit tätig. In diesem Zusammenhang hat er sich einen Überblick verschafft über den aktuellen Stand der medialen Diskussion, der die anthroposophische Bewegung im Zusammenhang mit Corona-Kritik ausgesetzt ist. In einem Kurz-Interview gibt er einen Einblick in seine Themengebiete.

Sebastian Knust: Wir haben als anthroposophische Bewegung gegenwärtig eine hohe mediale Aufmerksamkeit. Welche Themen werden angesprochen?
Matthias Niedermann: Zunächst sind das die üblichen kritischen Themen wie Rassismus, Antisemitismus, die schon ausführlich aufgearbeitet wurden. Wir haben hierzu ein Homepage-Projekt gestartet, um die Fragen und möglichst viele Informationen auch digital zur Verfügung zu stellen. Wirklich neu ist aus meiner Sicht, dass der Freiheitsbegriff und die Esoterik der Anthroposophie problematisiert werden. Kritische Artikel von vor fünf oder zehn Jahre stellten noch die Kritik der "geistigen Welt" oder des "Rassismus" ins Zentrum.
Freiheit hat sich als politischer und medialer Begriff im letzten Jahr sehr verändert. Noch 2011 konnte der FDP-Politiker Guido Westerwelle auf einem Parteitag seine Abschiedsrede der Freiheit widmen. Das würde heute wohl kein Politiker mehr so machen. Die Anthroposophie ist aber ohne den Begriff der Freiheit nicht denk- und praktizierbar – und das ist der Stein des Anstoßes.
Auch der Begriff der Esoterik wird medial sehr eindimensional diskutiert. Es geht um eine popkulturelle Konnotation des Begriffs, im Gegensatz zu einer langen abendländischen Tradition, in der Esoterik als zentrale Disziplin der Philosophie, der Kunst und der technologischen Entwicklung galt. In der Öffentlichkeit wird über Esoterik gesprochen, als ob sie nicht systemrelevant wäre, was aber im Falle der anthroposophischen Bewegung ja nicht der Fall ist.
Ein Teil der medialen Diskussion ist von der berechtigten Angst gegenüber der Irrationalität beherrscht und die gesellschaftlichen Dynamiken im letzten Jahr haben nicht zum Abbau dieser Angst geführt. Hier spielen nicht nur Corona und die Pandemie-Maßnahmen eine Rolle, sondern auch die Veränderung der politischen Landschaft in Deutschland sowie die Radikalisierung der politischen Diskussion in den USA.
SK: Warum hat die Aufmerksamkeit der medialen Öffentlichkeit zugenommen?
MN: Da gibt es in meinen Augen zwei wesentliche Aspekte: Zunächst ist die anthroposophische Bewegung in den vergangenen Jahren vermehrt als gesellschaftlich relevanter Faktor sichtbar geworden und als solcher identifizierbar. Die historische Nähe zu den Grünen ist auch ein Umstand, der angesichts der machtpolitischen Ambitionen sowie der aktuellen gesellschaftlichen Krise einen medialen Fokus schafft.
Das Zweite ist ein mehr inhaltlicher Aspekt: Die Frage der Freiheit und der Esoterik spielen eine große Rolle für die Bewältigung der aktuellen gesellschaftlichen Krise. Das fängt mit einfachen Fragen an: Wer bestimmt, ob ich krank oder gesund bin? Hat der Tod einen Sinn? Wenn man solche Fragen stellt und sie individualistisch beantwortet, tauchen aktuell sofort Probleme auf, nicht nur argumentativ, sondern bis in die rechtlichen Verhältnisse hinein – und das gilt nicht nur für Anthroposophen.
SK: Welche Entwicklungsaufgaben siehst Du in der nächsten Zeit?
MN: Die erste Aufgabe der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland ist es, die Anthroposophie zu fördern, zu pflegen und zu schützen. Das kann sie aber meiner Meinung nach nur, wenn sie etwas zur Verfügung stellt – aus Hingabe –, was den Menschen hilft, mit ihren wirklichen Fragen weiterzukommen.
Mich beschäftigen die polarisierten und entkoppelten Gesprächsräume, also die gespaltene Gesellschaft, in der Sprachlosigkeit herrscht. Das kennen wir alle, dass Gespräche plötzlich nicht mehr möglich sind. Aus der Konfliktforschung weiß man, dass das zu Depression oder Gewalt führt. Wie aber lässt sich der Raum des gesprochenen und geteilten Wortes zurückerobern? Im Mikrosozialen geht dies nur, indem ich aktiv auf unbequeme Gespräche zugehe, mir meiner eigenen Vorurteile bewusst werde und an den Punkt komme, wo ich nicht weiterweiß. Dann tritt oft überraschenderweise eine neue Frage auf.
Für die anthroposophischen Bewegung heißt das, die bisherige Art der Kommunikation zu hinterfragen, richtig wahrzunehmen und klarer darüber zu sprechen, womit man sich wirklich verbunden hat. Dafür aber brauchen wir in den nächsten Monaten und Jahren ein intensiveres Forschen und Fragen.
SK: Vielen Dank.