«Jeder Mensch ist Anthroposoph!»
Joseph Beuys zum 100. Geburtstag. Artikel aus der Zeitschrift „Anthroposophie“, Ostern 2021.
Joseph Beuys, dessen Geburtstag sich am 12. Mai zum 100. Mal jährt, beantwortete vor fünzig Jahren, am 21. Oktober 1971, einen Brief von Manfred Schradi in Freiburg und schrieb: «Sehr geehrter, lieber Herr Schradi, […] ihre Worte haben mich tief berührt, weil Sie mir damit den Namen Rudolf Steiners zuriefen, über den ich seit meiner Kindheit immer wieder nachdenken muss, weil, wie ich weiß, gerade von ihm ein Auftrag an mich erging auf meine Weise den Menschen die Entfremdung und das Misstrauen gegenüber dem Übersinnlichen nach und nach wegzuräumen. Im politischen Denken, dem Acker, den ich täglich zu bearbeiten habe, gilt es, die Dreigliederung so schnell wie möglich Wirklichkeit werden zu lassen. Diese Idee muss aus den Menschen herausgeholt werden, da sie in jedem einzelnen in verschiedenem Grade vorgebildet ist. Sie muss erstehen als die freie Leistung des Menschen selbst. Die große Leistung Steiners ist es gewesen, gar nichts «erfunden» zu haben sondern (nur!) aus der unendlich gesteigerten Wahrnehmung heraus vorgetragen zu haben, was des Menschen höhere Sehnsucht ist wenn er es auch noch nicht weiß. Behutsamkeit, Indirektheit, Unmerklichkeit, auch oft «Antitechniken» sind meine Möglichkeiten. Nicht ein Überfluten mit «anthroposophischem Museum». Denn mit der «Gesellschaft» haben sehr viele, auch ich selbst, nicht recht überzeugende um nicht zu sagen üble Erfahrungen gemacht. Und ich kenne zu gut das Misstrauen, ja sogar den Ekel allzuvieler. / Wo dieses Misstrauen auch nur ganz gering Eingang gefunden hat, ist man immer bereit den Schatz mit dem Unwert zusammenzuwerfen und zu verwerfen. Dann aber wird man blind für den einzig gangbaren Weg. / Mit herzlichen Grüßen Ihr Joseph Beuys.»[1]
Das Erlebnis aus der Kindheit schildert Beuys gegenüber Georg Jappe so: «Ich glaube, es kommt sehr darauf an, dass ein Mensch in einer bestimmten Kondition geboren wird, um solche Dinge wahrzunehmen, die ein anderer deswegen nicht in sich aufnehmen kann, weil ein Teil der Sache gar nicht an ihn heran kommt.» Und dann schildert er: «[…] immer in stereotyper Form, durch eine ganze Periode wiederholt. Ich laufe über eine Wiese, in Kleve, ein Bild, und da fährt der Zug vorbei, fährt nach Holland, […] gar nicht mal so weit, aber in dem Augenblick bildet er den Horizont, als Linie. Der Zug hält an, es steigt ein Herr aus, ganz schwarz gekleidet mit einem Zylinder auf, kommt auf mich zu – und sagt: ich habe es versucht mit meinen Mitteln, versuche du es – nur! –aus deinen Mitteln. Das war alles.»[2]
In einem Spiegel-Interview, das Peter Brügge mit Beuys über Anthroposophie führte, sagte Beuys zum gleichen Erlebnis, dass der Erscheinende eigentlich mehr ein «Unbekannter, ein Engel» gewesen sei, der später «öfter wiedergekommen» sei: «Einmal sehr hell, fast nicht vorhanden, ein durchsichtiges Wesen. Und ein andermal ganz schwarz von oben bis unten, aber praktisch mit demselben Inhalt der Vermittlung. Ich habe mich immer damit zu befassen, jeden Tag. […] Und das Merkwürdige ist, dass das, was er mir gesagt hat, als ich so um vier Jahre alt war, genau das ist, was ich heute machen muss.»[3]
Der Brief an Schradi ist das intimste Dokument, in dem Beuys sein Verhältnis zu Rudolf Steiner charakterisiert. Geht man nach dem «Spiegel»-Interview, dann geschah diese Begegnung in dem Jahr, in dem Rudolf Steiner über die Todesschwelle gegangen war.
Zu dem hier Geschilderten gehört ein Zweites, von dem Beuys berichtet. In einem Gespräch mit Hermann Schreiber (1982) schildert er: «Da ist dieses Erlebnis, so’n Wachtraum, der immer wiederkehrt, durch zwei Jahre hindurch. Ein Erlebnis, wo […] ich […] auf dem Dachfirst sitze. Und mir immer wieder beigebracht wird durch […] eine Art Engel […], der mir immer wieder gesagt hat: du bist der Prinz vom Dach. Also ganz einfach, dieser Satz, der kam stereotyp wieder, bis zu dem Moment, wo mir klar wurde, was bedeutet, dass gemeint war, das Dach ist der Kopf.»[4]
Das «hat Beziehung zu – sagen wir mal – Kräften im Kopf. Erkenntniskräfte, Denkkräfte […] undsoweiter, […] die Notwendigkeit, die Dinge auch gedanklich durchzuarbeiten und nicht einfach nur – wie gesagt – Kunst machen, Wissenschaft machen […] Ich glaube, da liegt der Schlüsselerlebniskern, für die Notwendigkeit, die Dinge in einen theoretischen Zusammenhang zu bringen; der im Ganzen dann wieder aussieht wie ein Weltgebäude. Es gilt, mit wachem, klarem Bewusstsein gedanklich zu durchdringen, was verwirklicht werden soll».[5] Aber auf welche Weise, mit welchen Mitteln soll es verwirklicht werden?
Durch seine «Kondition» und durch die Schlüsselerlebnisse der Kindheit ist Beuys darauf vorbereitet, der Anthroposophie zu begegnen und durch sie Begriffe und Methoden für das zu finden, «was ich bis heute machen muss».
Düsseldorf
1947 kam Joseph Beuys in der Düsseldorfer Kunstakademie in die Klasse von Ewald Mataré, in der sich die meisten Studierenden für Anthroposophie interessierten. Außerhalb des Zweiges waren es Otto Landau, der auf Anraten Steiners Biologie studiert hatte, und Lazislaus Stefanek, der offenbar ein faszinierender Redner war. – Günther Mancke, ein Mitstudent von Joseph Beuys, berichtete Rudolf Bind: «Wir sieben, einschließlich Beuys, gingen während etwa zwei Jahren regelmäßig zu den Vorträgen, dem Einführungs seminar in Düsseldorf und vor allem einmal in der Woche zu dem Arbeitskreis von Professor Max Benirschke, der in Düsseldorf […] Leiter des Anthroposophischen Zweiges war. In diesem Kreis wurde eigentlich nicht diskutiert; wir fragten, und Benirschke hat darauf lehrhaft, aber mit großer Überzeugungskraft, vorgetragen. Benirschke, einer der persönlichen Schüler Rudolf Steiners, war damals etwa 70 Jahre alt und erzählte aus seinem umfänglichen Wissen und Erleben. […] während der Düsseldorfer Zeit des anthroposophischen Studiums konnte man auch eine Zeit lang Vorträge von Lazislaus Stefanek hören. Die Brillanz des Vortrages und die Faszination, die der Redner aus- strahlte, zogen Beuys stark an, zumal er mit kleinen esoterischen Sensationen versorgt wurde. Damals ging unter den Studenten mit ihrem frechen Mundwerk das Wort um: ‹Lazi macht die großen Schnitte, Max die ambulante Behandlung.›. Wobei die ambulante Behandlung in die Tiefe, in die Verinnerlichung ging.»[6]
Außerhalb des Zweiges, so schildert Wilfried Altmann, hielt Otto Landau «Einführungskurse in die Anthroposophie, die außerordentlich gut besucht waren: «In einem persönlichen Gespräch riet ihm Rudolf Steiner, Naturwissenschaften zu studieren. [Er] wurde Gymnasiallehrer für Biologie, Erdkunde und Zeichnen [wie der Kunstunterricht damals genannt wurde].» Nach dem 2. Weltkrieg hielt er im Rahmen der Volkshochschule in Düsseldorf (und im Ruhrgebiet) «Einführungskurse in die Anthroposophie, die außerordentlich gut besucht waren. […] An solchen Kursen hat Beuys während seiner Studienzeit in Düsseldorf regelmäßig teilgenommen.». Das Thema seiner Kurse war «Menschheitsentwicklung». Im Düsseldorfer Zweig der Anthroposophischen Gesellschaft trat er nicht auf. «Er war wohl ein zu bunter Vogel und zu eigenständig für die eher konservative [Anthroposophische] Gesellschaft.» Sein «Wissen war immens, nicht nur die Kenntnis der anthroposophischen Inhalte, sondern auch die der geschichtlichen Quellen und Zusammenhänge. [… Seine] universalistischen Darstellungen waren gründlich bis in verzweigte Details, denen seine Begeisterung gleichermaßen galt wie den großen Aspekten.»[7]
Pflanze
Für Beuys ist zunächst «die Kenntnis der anthroposophischen Inhalte» in ihrer ganzen Breite wichtig. Entscheidend für sein künftiges Arbeiten wird aber schon 1947, was er bei anthroposophischen Wissenschaftlern in Bezug auf Biologie, speziell Botanik, kennenlernt. Die Schrift «Botanische Beiträge und Erläuterungen zum Verständnis der Vorträge Dr. Rudolf Steiners ‹Geisteswissenschaft und Medizin›, ein Versuch» von Gerbert Grohmann[8] macht ihn mit Steiners Alchemie bekannt, die am Bild der blühenden einjährigen, zweikeimblättrigen Pflanze ablesbar ist. Die geometrische Linienstruktur der Wurzelanlage entspricht dem Sal-Prinzip, die dynamische Metamorphose der spiralig angeordneten Blätter dem Merkur-Prinzip, die sich in Duft, Blütenstaub und Samenkörner auflösende Blüte dem SulphurPrinzip. Indem Beuys die Ausführungen Steiners und Grohmanns liest, verbildlicht er sie zugleich: Er zeichnet an den Rand des Buchs kleine Figuren, metamorphosiert sie und fasst sie schließlich in einer Zeichnung zusammen, die die Prinzipien seiner zwanzig Jahre später entwickelten «Plastischen Theorie» und des dazugehörigen Diagramms vorausnimmt.[9] Es zeigt sich darin eine «Weise», wie er ab Mitte der Sechzigerjahre wirken wird. Er nennt sie «Parallelprozess», die Parallelführung von inhaltlicher Ausführung und Zeichnung, die schon in den Fußbodenzeichnungen während der Ringgespräche in der Akademie – er wurde dort 1961 Professor für monumentale Bildhauerei – und auf den vielen Wandtafeln, die er während seiner Vorträge zeichnet, einen bedeutenden Teil seines öffentlichen Arbeitens betrifft.
Bei der Darstellung der Pflanze, wie er sie damals morphologisch kennenlernte, interessieren ihn vor allem die Gestaltungsprinzipien, die er schließlich in einer Art Formel darstellt. Im Gespräch mit Frank Meyer sagt er: «Es ist eben bei mir immer darauf angelegt, dass ich eine Formel brauche und entsprechend einer Formel verfahre. […] Es handelt sich im Grunde bei diesen Kraftfeldern um das Chaos, die Bewegung und die Form. Das hat man auch mal ausgedrückt in Sulphur, Mercurius und Sal.»[10]
Dieses Diagramm ist eine Art Universalformel für die tria principia von der Pflanze bis zur Dreigliederung des höchsten göttlichen Prinzips der christlichen Theologie – im Sinne des Angelus Silesius, der formulierte: «Dass Gott dreieinig ist, zeigt dir ein jedes Kraut, da Schwefel, Salz, Merkur in Einem wird geschaut.» Als wie universal Beuys selbst diese Formel einschätzt, geht aus einer Passage des Werkstattgesprächs mit dem Thema «Was ist Kunst?» deutlich hervor: «[…] dass man als Produzent also im Idealfall doch dies beides leisten müsste, dass man die Formel finden müsste, von der aus man, sagen wir einmal ganz global, das Weltproblem lösen kann, dass man die Formel gefunden hat oder sich mit ihr befasst, sich ihr annähert oder ein großes Interesse daran hat, eine solche Formel zu finden, so etwa wie vergleichsweise die einsteinsche Formel, die im physikalischen Bereich ja vieles revolutioniert hat, dass man jetzt also […] eine Formel findet, die noch viel besser funktioniert als die einsteinsche: in Richtung auf den Menschen und seine zukünftige Entwicklung, die also da alles revolutioniert; wobei ich meine, diese Formel wäre dann von vornherein auch nicht mehr so ein Denkergebnis wie in der klassischen Philosophie, sondern würde auch schon der Notwendigkeit entsprechen, dass so etwas nur zugänglich ist durch Intuition und Imagination und solch höhere Denkkategorien[11] –, und dass man auf der anderen Seite die Idee ausdrücken kann, indem man ein simples Olivenblatt aquarelliert.»[12]Die Diagramm-Formel, die Beuys entwickelt, ist etwas komplexer. Wie ihre Entstehung gedacht werden kann, zeigen die nachstehenden Zeichnungen.
Links (Abb. oben) die Zeichnung einer Pflanze auf einer Tafel, die während der documenta VI 1977 in Kassel entstand, wo Beuys das Diagramm zur Plastischen Theorie im Sinne seines erweiterten Kunstbegriffs in der monumentalen Form der «Honigpumpe am Arbeitsplatz» installiert hatte. Rechts daneben eine Zeichnung, die mit Goethe «Urpflanze» genannt werden könnte: unten eine kristalline Form wie in der oben erwähnten Zeichnung in Grohmanns Buch, in der Mitte «Entfaltung» und «Zusammenziehung», wie Goethe an eine Urpflanzen-Zeichnung schrieb, in der er die Metamorphose der Blätter darstellte, oben aus- und einkreisend das Blütenorgan. Was ganz links abbildlich und zugleich typisierend gezeichnet ist, ist hier zu einer Formel verdichtet. Ganz rechts sehen wir diese Formel horizontal liegen und links von ihr, locker, großzügig und rhythmisch skaliert die «Formel», die zur Grundlage seiner Wandtafel-Kompositionen wird: explizit an der Basis jener «Evolution» genannten Zeichnung, die Beuys 1974 auf meine Bitte hin sorgfältig komponiert auf ein DIN-A3 großes Blatt zeichnete.
Hier (Abb. rechts) findet man links unten die «Formel», die als Gestaltungsprinzip in allen Zeichnungsdetails wirksam ist: in der oberen Zone in den Naturreichen, unten in der kosmischen und in der kulturhistorischen Evolution, zusätzlich markiert mit den Zahlen 1 2 3. Rechts vom Kreuzungspunkt liegt der offene Weg in die Zukunft, in der die Dreigliederung des sozialen Organismus verwirklicht werden soll; deren drei Grundbegriffe Geistes leben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben sind oben neben die dreigliedrige Pflanze geschrieben. Die Grundlage zu ihrer Verwirklichung bildet das Gespräch, das zwischen den Beteiligten hin und her geht: S (Sender) und ∃ (Empfänger) im Zentrum des Sonnenstaats.
Kulturevolution
Die Kulturevolution gliederte Beuys in einem der Ringgespräche in der Akademie in Vaterprinzip, Sohnprinzip, Geistprinzip.[13] In der Evolutionszeichnung sehen wir die Worte Christus und Kreuz über dem Schnittpunkt von vier Geraden, die den Gegenwartspunkt der Kulturevolution kennzeichnen. Indem er diese Worte schreibt, aktualisiert er Rudolf Steiners Aussagen zur Wiederkunft Christi in der Gegenwart, nachdem Christus durch den massiven Materialismus verstorbener Menschenseelen aus der geistigen Welt in die Äthersphäre der Erde verdrängt wurde. Hier aber lebt nun «die Christuskraft: das Evolutionsprinzip kann nun aus dem Menschen quellen, es kann aus dem Menschen hervorbrechen, denn die alte Evolution ist bis heute abgeschlossen. Das ist der Grund der Krise. Alles was an Neuem sich auf der Erde vollzieht, muss sich durch den Menschen vollziehen […] Wer mit dem inneren Auge zu sehen sucht, der sieht, dass der Christus längst wieder da ist. Nicht mehr in einer physischen Form, aber in der bewegten Form einer für das äußere Auge unsichtbaren Substanz. Das heißt, er durchweht jeden einzelnen Raum und jedes einzelne Zeitelement substanziell. Also er ist ganz nah da […] Die Form, wie diese Verkörperung Christi sich in unserer Zeit vollzieht, ist das Bewegungselement schlechthin. Der sich Bewegende […] Es ist also das Auferstehungsprinzip: die alte Gestalt, die stirbt oder erstarrt ist, in eine lebendige, durchpulste, lebensfördernde, seelenfördernde, geistfördernde Gestalt umzugestalten. Das ist der erweiterte Kunstbegriff»[14] – das ist das wahre Merkurprinzip. Den Sinn und die Konsequenzen dieses Kunstbegriffs deutlich zu machen, sieht Beuys als die wesentliche Aufgabe des «Kreators» Mensch: der «Bürger – Künstler / Arbeiter» (unten rechts in die Evolutionszeichnung geschrieben) muss die zukünftige, dreigliedrige Gestalt menschlicher Zusammenarbeit entwickeln. In dem Sinne ist «Jeder Mensch ein Künstler» (ein oft gebrauchter und viel zitierter Ausspruch von Joseph Beuys).
In dieser Zeichnung sind die Grundthemen von Geheimwissenschaft, Kulturphilosophie, Christologie, Menschenkunde und Sozialwissenschaft im Sinne von Rudolf Steiners Anthroposophie in formelhafter Weise bildfüllend vereint. Erklärt hat Beuys von diesem allen im Wesentlichen die soziale Dreigliederung.[15] Aber alles andere ist damit verschränkt, indem der Merkurialprozess als in der Welt wirkendes Prinzip verstanden werden kann, das nicht nur begrifflich- ideell gedacht, sondern als schöpferisch in der Welt wirkendes Wesen erfahren werden kann: das Christusprinzip, wie Rudolf Steiner es nennt, und damit dem Verständnis des Christuswesens auf eine in der Theologie noch nie gedachte Weise näherkommt. In meinem jüngst erschienenen Buch «Mit Beuys Evolution denken» habe ich versucht, alle Einzelheiten der Zeichnung mitdenkend zu entwickeln.[16]
In einem Gespräch 1985 mit Knut Fischer und Walter Smerling wird Beuys gefragt: «Du bist eigentlich ein Anthroposoph?» Beuys: «Ja, wahrscheinlich bin ich einer. Aber eigentlich mag ich nur die Gesellschaft nicht immer. Ich werde auch oft angefeindet durch diese Gesellschaft, man ist ja nicht deshalb gleich ein Anthroposoph, weil man in dieser Gesellschaft konsequent und logisch denkt. Andererseits: Unter diesen Voraussetzungen muß man ja eigentlich Anthroposoph sein. Jetzt könnte ich also ein neues Gesetz aufstellen: Nicht jeder Mensch ist ein Künstler, jeder Mensch ist Anthroposoph.»[17] Eine typische Beuys-Antwort! Um nicht zum Anthroposophisten gemacht zu werden, wendet er die Antwort ins Große – denn jeder Mensch hat schon Erfahrungen gemacht, an die er auf dem Weg zur Anthroposophie anknüpfen könnte.
Die ästhetische Qualität des bildenden Künstlers, der außerordentliche Einfallsreichtum und die faszinierende Ausstrahlung, die von seiner Person und seinen Aktionen ausging, machten Beuys zum Weltkünstler – dessen Werk doch rätselhaft bleibt. Der Redner und Tafelzeichner Beuys regt den betrachtenden Zuhörer dazu an, dass man «die Formel» findet «oder sich mit ihr befasst, sich ihr annähert oder ein großes Interesse daran hat, eine solche Formel zu finden, die noch viel besser funktioniert als die einsteinsche: in Richtung auf den Menschen und seine zukünftige Entwicklung» – und dass man mit ihr die Dreigliederung als Universalprinzip in Natur, Kultur und Gesellschaft entdecken lernt. Auf solche Weise hat Beuys versucht, mit seinen Mitteln auf die Offenbarungen des Übersinnlichen im Sinnlichen hinzuweisen und Fragen in Bezug auf zukünftige Gesellschaftsformen anzuregen. Der in Dornach gepflegte anthroposophische Kunstimpuls war nicht sein Weg[18] – darauf hatte ihn Rudolf Steiner schon als Kind angesprochen, aber Anthroposophie eröffnet viele individuelle Wege.
Volker Harlan, geb. 1938 in Dresden. Studium der Theologie, Biologie, Kunst und Kunstgeschichte. Priester der Christengemeinschaft in Bochum/Witten. Dozent für Naturphilosophie und Ästhetik an versch. Hochschulen. Publikationen in botanischer Morphologie, goetheanistischer Phänomenologie und Kunstgeschichte, besonders zu Paul Klee und Joseph Beuys; aktuell: «Mit Beuys Evolution denken» (mit Wolfgang Zumdick), München 2020; «Was ist Kunst? – Werkstattgespräch mit Beuys», Stuttgart 2021; «Das Bild der Pflanze in Wissenschaft und Kunst. Aristoteles – Goethe – Paul Klee – Joseph Beuys», Frankfurt/M. 2004.
[1] Erstmals veröffentlicht 1990 durch Dieter Koepplin im Katalog der Ausstellung «Plastische Bilder» in der Galerie der Stadt Kornwestheim, Anmerkung 23 auf Seite 31.
[2] Georg Jappe: Beuys packen – Dokumente 1968–1996. Regensburg 1996, Seite 206ff, Interview mit Beuys über Schlüsselerlebnisse am 27.9.1976.
[3] Peter Brügge: Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt. Spiegelgespräch mit Beuys. «Der Spiegel» Nr. 23/1984.
[4] Hermann Schreiber: «lebensläufe, im gespräch mit joseph beuys, julius hackethal, ernst herhaus, manfred krug, hans küng, loriot, john neumeier, leni riefenstahl». Frankfurt/M. 1982
[5] Georg Jappe: A. a. O.
[6] Rudolf Bind: Günther Mancke erzählt von Joseph Beuys. In: das Goetheanum 1994, Nummer 27 7
[7] Winfried Altmann: Beuys’ Lehrer Otto Landau; Freier und kreativer Geist. In «Das Goetheanum» Nr. 48/2008. Gilt für alle Zitate in diesem Absatz.
[8] Gerbert Grohmann: Botanische Beiträge und Erläuterungen zum Verständnis der Vorträge Dr. Rudolf
Steiners «Geisteswissenschaft und Medizin», ein Versuch. Freiburg 1945.
[9] Diese hier abzubilden ist leider nicht möglich, weil der «Joseph Beuys-Estate» es nicht zulässt. Sie finden sich aber in dem Buch «Das Bild der Pflanze in Wissenschaft und Kunst. Aristoteles – Goethe – Paul Klee – Joseph Beuys» von Volker Harlan, erschienen 2002 im Info3-Verlag, Frankfurt/M.
[10] Frank Meyer in «Info3» Nr. 2/1982 (Hervorhebungen V. H.).
[11] Wie Steiner sie als Stufen der höheren Erkenntnis in seinem Buch «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» darstellt, das Beuys auch während der Akademiezeit las.
[12] Volker Harlan: Was ist Kunst – Werkstattgespräch mit Beuys. Stuttgart 2011, S. 19.
[13] Johannes Stüttgen: Der ganze Riemen. Der Auftritt von Joseph Beuys als Lehrer – die Chronologie der Ereignisse an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf 1966–1972. Köln 2008, S. 353.
[14] Friedhelm Mennekes: Beuys zu Christus / Beuys on Christ – eine Position im Gespräch. Stuttgart 1989.
[15] Zum Beispiel im Gespräch mit Rainer Rappmann in dem Buch: «Soziale Plastik – Materialien zu Joseph Beuys» von Volker Harlan, Rainer Rappmann, Peter Schata, Achberg 1976; oder im «Aufruf zur Alternative», ganzseitig abgedruckt am 23.12.1978 in «Frankfurter Rundschau», wieder abgedruckt in «Soziale Plastik», Krefeld 1984, S. 129ff.
[16] Volker Harlan: Mit Beuys Evolution denken – Dreigliederung als Weltprinzip in der Evolution von Natur, Kultur und Gesellschaft. München 2020.
[17] Joseph Beuys im Gespräch mit Knut Fischer und Walter Smerling. In «Kunst heute» Nr. 1, Köln 1989.
[18] Günter Mancke beschreibt ein Gespräch mit Beuys in den Sechzigerjahren: «Wie wir uns dann über Künstlerisches unterhielten, kam es zu einer Szene, die sich mir unauslöschlich eingeprägt hat. Beuys ging durch seinen Schrott [in seinem Atelier in der Düsseldorfer Kunstakademie] durch, tauchte irgendwo unter, tauchte wieder auf und sagte: ‹Das ist das Einzige, was uns aus dem Chaos heraushelfen kann.› Es war das Buch ‹Das Wesen der Künste› von Rudolf Steiner. Das war ein tiefer Ausdruck seiner Einschätzung des wirklich Künstlerischen. Wenn man ihn selbst auf seine künstlerische Tätigkeit ansprach und überhaupt nach seinen Aufgaben befragte: Ja, warum bemühst du dich dann nicht um diesen anthroposophischen Ansatz?, dann sagte er: ‹Ich kann es nicht, ich kann es wirklich nicht!› Das wurde ihm oft nicht geglaubt. Aber er konnte es aus seiner Konstellation heraus wirklich nicht machen. Und er sagt: ‹Das müsst ihr machen, das müssen andere machen. Ich kann es nicht.› […] Dies hat er wohl mehreren Leuten so gesagt, die ihn immer wieder daraufhin angesprochen haben: Er könne diese Wege der goetheanischen Kunst nicht gehen, die er eigentlich für berechtigt und für notwendig hielt. Er musste eben alles von einem anderen Aspekt aus ansehen [auf seine Weise]. Er hatte eine sehr große Erwartung an die Kunst, aber eine Erwartung in dasjenige, was nicht Klischee ist, was nicht unschöpferisch nach Rezept fabriziert ist. Er wäre nie zufrieden gewesen mit etwas, von dem man dann sagen könnte: Ja, das ist ‹anthroposophische Kunst›. Beuys hatte Sehnsucht nach Echtheit und nach wirklich Schöpferischem.» – Georg Jappe: A. a. O.