Kulturgeschichte und Ätherforschung
von Roland Halfen | 10.10.2022
Inhaltsverzeichnis
Ein Debattenbeitrag aus der Michaeliausgabe 2022 der Zeitschrift "Anthroposophie". Der Beitrag von Jörn Heinlein, Corinna Rix und Elisabeth Schutz-Heinlein im Johanniheft 2022 von «Anthroposophie»[1] ist insofern aufschlussreich, als er einen authentischen Einblick in Forschungsfragen, Methoden und Probleme der aktuellen «Bildekräfte-» oder auch «Ätherforschung» vor Augen stellt.
Zunächst einmal ist es einleuchtend, dass man sich dann, wenn man den Anspruch einer Forschungs-Tätigkeit erhebt, um eine solide erkenntnismethodische Grundlage bemüht, wie es die Autoren zumindest andeuten. Es ist auch naheliegend, dass man sich dann, wenn man aus anthroposophisch inspirierter Sichtweise heraus arbeiten möchte, an Steiners erkenntnistheoretischen Grundlagen orientiert. Aber auch wenn man das nicht tut, ist die – nicht nur von Steiner, sondern immer noch vielerorts implizit zugrunde gelegte – Unterscheidung zwischen Beobachtung und Denken, Wahrnehmung und Begriff für jede methodisch reflektierte Arbeit auf einem Gebiet, die man als Forschung deklarieren möchte, von Bedeutung. Im Folgenden soll dies auch hier zugrunde gelegt werden.
[1] Jörn Heinlein, Corinna Rix und Elisabeth Schutz-Heinlein: Archäologie und Ätherforschung. In «Anthroposophie» 300, Johanni 2022, S. 103–113.
Wahrnehmung und Bezeichnung
Schon zu Beginn des Beitrags entsteht die Frage, ob man den Denkprozess, wie es dort geschieht, schon als solchen zum «fundamentalen Eintritt in die [also nicht etwa eine, R. H.] nicht-sinnliche Aktivität» erklären kann. Unmittelbar darauf heißt es dann: «Die ätherische Welt erschließt sich uns als ein Gebiet innerer Bilder, Bewegungsformen und Kräfte.» (S. 103) Bereits hier wäre unter methodischem Aspekt eine strenge Unterscheidung zwischen Wahrnehmung(en) und Begriff(en) geboten, denn ob man die innere Wahrnehmung von Bewegungsformen, Kräften und Bildern bereits mit dem Begriff der «ätherischen Welt» bezeichnen darf, ist keineswegs selbstverständlich. Steiner, den man als Autorität anerkennen darf, hat ja explizit darauf hingewiesen, dass Wahrnehmungen auf diesem Gebiet keineswegs bereits Wahrnehmungen einer «Welt» sein müssen, sondern – und anscheinend unumgänglich – Wahrnehmungen der eigenen (ätherischen) Leiblichkeit, also zunächst einmal berechtigt subjektive und subjektorientierte Wahrnehmungen.[2] Da der ätherische Leib allerdings nicht in derselben klaren Weise von der ihn um-gebenden Welt abgetrennt ist wie der physische Leib, ist ein durch geistige Schulung induzierter, allmählicher Übergang von subjektiven zu objektiven Wahrnehmungen zwar möglich und anstrebenswert, aber eben nicht unmittelbar gegeben. Man könnte sogar sagen, dass die energische und systematische Arbeit einer geistigen Schulung im Sinne der Anthroposophie gerade darin besteht, sich aus zunächst subjektiven Wahrnehmungen allmählich zu solchen Wahrnehmungen hindurchzuarbeiten, die inhaltlich subjektunabhängig genannt werden dürfen. Während es bezüglich vieler begrifflicher Inhalte des Denkens nicht schwer ist, ihre Subjektunabhängigkeit auf-zeigen, lässt sich das jedoch nicht so einfach auf alles hin verallgemeinern, was dabei innerlich wahrgenommen werden kann.
In Bezug darauf haben die Autoren ja auch erfreulich offen bekundet, dass «hinsichtlich ätherisch-inspirativer Wahrnehmungen meist eine Vielzahl von Beobachtungen zustande» kommt, was sich auch in den tabellarisch geordneten Wahrnehmungen der drei «Probanden» an Orten mit megalithischen Bauwerken[3] artikuliert: Während Proband 1 an der Megalithanlage von Daudieck ein «Aufgehen in der Umgebung» verspürt, spricht Proband 3 am selben Ort von einem «unbedingten Bei-sich-Sein» (S. 110). Es liegt also nahe, diese Wahrnehmungen dann, wenn man nach sachgerechten Begriffen zur Bezeichnung der Eindrücke sucht, zunächst ein-mal als Ausdrücke je verschiedener Selbstwahrnehmungen zu deuten, die sich allein deshalb, weil sie den Wahrnehmenden in einem nichtsinnlichen Medium erscheinen, noch gar nicht wesentlich von Erlebnissen anderer Menschen, die sich nicht als «Äther-forscher» verstehen, unterscheiden. Wo der oder die eine sich in einer steingedeckten Kammer geborgen fühlt, erlebt der oder die andere eine Bedrückung, und das ist durchaus legitim. Es kann sich dadurch aber schon bald der Verdacht aufdrängen, dass hier keineswegs außergewöhnliche oder gar überraschende Beobachtungen lediglich mit Begriffen aus dem geisteswissenschaftlichen Repertoire wie «ätherisch-inspirativ» usw. qualifiziert oder sogar nobilitiert werden.[4] Dasselbe gilt aber auch schon für bekannte Begriffe wie «Ewigkeit» oder unmittelbar erläuterungsbedürftige wie «Lichtgeometrie der Welt». Forschungsqualität entsteht hier erst dann, wenn die grundlegenden Bezeichnungen für Wahrnehmungen als präzise und treffend nachgewiesen werden können, was nur durch die anhaltende Bereitschaft zum wiederholten Befragen und Prüfen der Bezeichnungen gewährleistet ist.
[2] Vgl. dazu etwa Rudolf Steiner: Die Stufen der höheren Erkenntnis. (GA 12), Dornach 1993, S. 36–51,
Kapitel «Die Imagination».
[3] Obwohl man diese Schreibweise zuweilen antreffen kann, werden solche Anlagen nicht Hühnen- sondern Hünengräber genannt. Hüne ist ein heute nur noch selten gebrauchter Ausdruck für einen riesenhaften Menschen oder Riesen, aus geisteswissenschaftlicher Perspektive ein vorgeschichtlicher Mensch mit einem noch weit über den physischen Leib hinausragenden Ätherleib.
[4] Vgl. dazu etwa Rudolf Steiners Vortrag vom 27. August 1913 in: Die Geheimnisse der Schwelle. (GA 147).
Wahrnehmungen im Forschungskontext
Eine zweite Dimension der Forschung, in der Wahrnehmungen mit Begriffen verbunden werden, ist die Einbettung der bezeichneten Beobachtungen in den Kontext bereits erfolgter Forschungen. Hier wird von den Autoren zunächst korrekt darauf hingewiesen, dass die bisherige archäologische Forschung auf dem Gebiet der Megalithkultur durch den Mangel an zeitgenössischen Schriftdokumenten keine gesicherten Belege für die hinter den materiellen Überresten der Kultur stehenden Intentionen besitzt und insofern mit einer natürlich gegebenen Erkenntnisgrenze konfrontiert ist.[5] Einmal abgesehen davon, dass vergleichbare Erkenntnisgrenzen auch bei dem Vorhandensein solcher zeitgenössischer Zeugnisse bestehen, denn die erhaltenen Dokumente bringen ihr Verständnis auch nicht sogleich mit sich, ist es auffällig, dass der wohlbegründete Respekt vor diesen Erkenntnisgrenzen spürbar tendenziös als «erschreckend deprivierte Bedeutungskenntnis der zeitgenössischen Wissenschaft» bezeichnet wird. Die Gründe hierfür werden dementsprechend als «scheinbar gute Gründe» betitelt. Und dass sich die gegenwärtige Archäologie über «Zugangsmöglichkeiten und das weitere Was und Warum dieser imposanten Anlagen» laut den Autoren «ausschweige», ist nicht nur sachlich falsch, sondern unterstellt erneut und augenfällig subjektive Motive. In der Bezeichnung der gegenwärtigen archäologischen Forschung als «Vorarbeit» wird dem Leser schließlich sogar suggeriert, mit der Ätherforschung nun die genannten Erkenntnisgrenzen überschreiten und zu den wahren inneren Motiven vorgeschichtlicher Menschen vordringen zu können, in diesem speziellen Fall bezüglich eines Wechsels von der Ganzkörper- zur Feuerbestattung.[6]
Auffällig ist hierbei zugleich, dass die bisherigen geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse, sowohl was die Bewusstseinsverfassung von Menschen früher Kulturen als auch was die konkreten Handlungen ihrer Repräsentanten betrifft, mit keinem Wort erwähnt werden. Das betrifft zunächst einmal Rudolf Steiners Ausführungen zu dieser Epoche, etwa der Vortrag «Die Sonneninitiation des Druidenpriesters und seine Mondenwesenserkenntnis»[7] und andere Aussagen vom Herbst 1923, nachdem er mehrere megalithische Schauplätze in England und Wales besucht hatte. Aber auch hinsichtlich der durch Steiner inspirierten Sekundärliteratur ist es signifikant, dass von Frank Teichmanns grundlegender Publikation zur Megalithkultur lediglich eine Passage zitiert wird, die sich auf Ägypten bezieht.
Und schließlich fehlt auch ein instruktiver Hinweis auf das Verhältnis des eigenen Vorgehens zum Stand der bisherigen BiIdekräfteforschung, zu deren Methoden, Kriterien und vor allem deren Prüfungsinstanzen, um sich selbst in diesem Kontext überzeugend verorten zu können. Auch wenn Steiner es hin-sichtlich seiner geisteswissenschaftlichen Forschungen nur selten erwähnt hat, beruhen auch diese auf bereits erfolgten Forschungen, nicht nur der eigenen, sondern auch und nicht zuletzt anderer geistig Forschender. Hinsichtlich seiner vor-anthroposophischen Werke bietet «Die Philosophie der Freiheit» (GA 4) gleich im ersten Kapitel ein prägnantes Beispiel, wie sich aus der kritischen Würdigung der Positionen voraufgegangener Autoren eine differenzierte und fruchtbare Fragestellung entfalten lässt.
So vermag leider schon beim ersten Blick auf die präsentierten Erlebnisse der Eindruck aufzukommen, dass – insbesondere gemessen an der Haltung, die gesamte archäologische Forschung lediglich als «Vorarbeit» für das eigene Eintauchen in die Handlungsmotive vorgeschichtlicher Menschen betrachten zu dürfen – die Ergebnisse der dort vorgestellten «Ätherforschung» ihren Wert nicht so sehr aus erhellenden, vielleicht sogar überraschenden Ergebnissen beziehen, sondern lediglich aus dem im besten Sinne fragwürdigen Selbstverständnis der Autoren.
[5] Frank Teichmann hat in seinem Buch «Der Mensch und sein Tempel – Megalithkultur» (Stuttgart 1981, S. 15f.) plausibel gemacht, dass es sich bei dem Fehlen schriftlicher Dokumente innerhalb dieser Kulturart nicht um einen Zufall oder rein äußerliche Ursachen handelt, sondern um ein Phänomen, das sich konsequent aus der Eigenart dieser Kultur herleitet. Insofern ist auch eine künftige Entdeckung solcher schriftlichen Dokumente nicht zu erwarten.
[6] Hier wäre es hilfreich gewesen, die Vorarbeit der Archäologen zumindest zu erwähnen, nach der dieser Wechsel keineswegs flächendeckend geschah, sondern oftmals beide Bestattungsarten nebeneinander existierten, zumal die Verbrennung keineswegs notwendig auch mit der Aufbewahrung der Asche in einem Gefäß (Urne) verbunden sein musste. Erst in der spätneolithischen «Schönfelder Kultur» Norddeutschlands findet sich eine regelhafte Verwendung von Urnen für die Asche der Verstorbenen.
[7] Rudolf Steiner: Initiationswissenschaft und Sternenerkenntnis. (GA 228), S.103–117, Vortrag vom 10.6.1923.
Wahrnehmung und Schlussfolgerung
Eine dritte Ebene der Beziehung von Begriffen auf Wahrnehmungen ist die Ebene der Schlussfolgerungen, die sich an bereits bezeichnete Beobachtungen anschließen. Die möglichen Probleme, die sich bei diesem Vorgang auftun, betreffen besonders alle Erfahrungen, die sich auf historisch überlieferte Objekte beziehen. Kann man aus den Wahrnehmungen, die sich an gegenwärtig existierenden Orten und Objekten machen lassen, ohne Weiteres auf lang vergangene Verhältnisse schließen? Obwohl der Gesichtspunkt einer Bewusstseinsentwicklung oder zumindest -veränderung in den Kulturwissenschaften keineswegs kategorisch ausgeschlossen wird, ist dieser Gesichtspunkt vor allem für Forschungen mit anthroposophischem Hintergrund grundlegend. Dass der Wechsel von Bestattungsriten sich nicht oder zumindest nicht schlüssig auf rein äußerliche Aspekte zurückführen lässt, ist in den Altertums-wissenschaften übrigens bekannt und markiert sogar einen Teil der angesprochenen Erkenntnisgrenzen.
Wenn man aber schon, wie es die Autoren tun, ausdrücklich vor dem Hinein-interpretieren gegenwärtiger Verhältnisse in die Vergangenheit warnt, sollte dies doch mit derselben Strenge auch für die eigenen Forschungen gelten. Von Erlebnissen heutiger Menschen an heute zugänglichen Orten unreflektiert auf Erlebnisse und Motive von Menschen zu schließen, die vor Tausenden von Jahren in einer zuweilen deutlich anderen Umgebung nicht auf die Reste, sondern auf das Entstehen und die Existenz vollständiger megalithischer Anlagen blickten, ist zwar verständlich, bleibt aber gemessen an expliziten Forschungsansprüchen noch unterhalb der Schwelle diskutabler Methoden und tragfähiger Ergebnisse.
Insbesondere dann, wenn man ätherische und astrale Dimensionen mitberücksichtigen will, sollte man ins Auge fassen, dass zur Vorgeschichte einer gegenwärtig zugänglichen Anlage auch das im Laufe der Geschichte wechselnde Verhältnis der Menschen zu dieser Anlage gehört, und dies entsprechend berücksichtigen. Wer von den 18.000 geomantisch ermittelten Bovis-Einheiten des Labyrinths von Chartres darauf schließt, dass das Labyrinth wegen dieser Konzentration am heutigen Ort erbaut wurde, der berücksichtigt nicht, dass die über viele Jahrhunderte erfolgte Begehung des Labyrinths durch religiös gestimmte Menschen eine Wirkung im Übersinnlichen des Orts hinterlassen haben könnte, die bis zu geomantisch messbaren Konsolidierungen geführt hat. Für diesen Aspekt muss man die Möglichkeit bedenken, dass die Astralität der Menschen – bzw. der sich darin auslebenden übersinnlichen Wesenheiten – eine Wirkung auf die Astralität des Ortes haben kann, und diese wiederum eine Wirkung auf die ätherische Dimension. Denn in dieser gibt es ja nicht nur anonyme «Energien» und «Strömungen», sondern – so Rudolf Steiner – elementarische Wesenheiten, mit denen der Mensch während seiner Anwesenheit am Ort unbewusst in Beziehung tritt.[8] Als Gegenbeispiel zu Chartres mögen die Externsteine bei Detmold genannt werden, die seit der Zeit des Nationalsozialismus zu einem Zentrum mystisch-völkischer Aktivitäten geworden sind, was einen gravierenden Einfluss auf das gehabt hat – und weiterhin hat –, was man umgangssprachlich «die Stimmung» am Ort zu bestimmten Zeiten nennt.[9] Mit diesem Aspekt steht die «Ätherforschung» an historischen Artefakten vor dem wohl schwerwiegendsten Problem einer ungeprüften Übertragung gegenwärtiger Erlebnisse in die Vergangenheit. Bei einer historisch orientierten, ins Spirituelle erweiterten Fragestellung müsste m. E. zumindest eine gründliche und differenzierte Auseinandersetzung mit den Forschungsergebnissen Rudolf Steiners stattfinden, um dem naheliegenden Vorwurf eines naiven Hineininterpretierens gegenwärtiger Verhältnisse in die Vorgeschichte etwas entgegensetzen zu können.
Dabei darf keineswegs außer Acht gelassen werden, dass es für den historischen Wechsel der Bestattungsriten oder andere nicht durch Dokumente erklärbare Phänomene der Vorgeschichte auch bewusstseinsgeschichtlich fundierte Erklärungen geben kann, die gedanklich plausibel sind, ohne dass man hierbei auf (noch) ungesicherte Ergebnisse einer «Ätherforschung» verweisen müsste. Das grundlegende Problem jeder bewusstseinsgeschichtlich orientierten Kulturgeschichte ist ja, dass wir uns heute nicht einfach in den Bewusstseinszustand eines alten Ägypters oder Megalithikers versetzen können, sondern diesen aus allen hierfür relevanten Dokumenten heraus stets nur approximativ erschließen können. Wer zusätzlich dazu keinen eigenen Zugang zur Akasha-Chronik besitzt, findet immer-hin in Steiners Forschungsergebnissen auf diesem Gebiet eine nennenswerte Quelle von fruchtbaren Anregungen.[10]
[8] Vgl. dazu etwa Rudolf Steiner: Die Schwelle der geistigen Welt. (GA 17), Dornach 2009, S. 23–29, Kapitel «Von dem ätherischen Leib des Menschen und von der elementarischen Welt».
[9] In seinem Vortrag «Die okkulten Gesichtspunkte des Stuttgarter Baues» vom 15. Oktober 1911 (in Rudolf Steiner: Bilder okkulter Siegel und Säulen. [GA 284], S. 148–156) wird die sinnlich-übersinnliche Wechselbeziehung zwischen dem Menschen, seiner gestalteten Umgebung und bestimmten Wesen der ätherischen Umgebung konkret beschrieben.
[10] Vgl. dazu etwa Roland Halfen: Britische Vorgeschichte. Das Rätsel der cup-and-ring-marks. In: «Stil», Epiphanias 2019, S. 39–46.
«Ätherforschung» im Kontext der Bewusstseinsgeschichte
Für eine bewusstseinsgeschichtlich orientierte Einbettung der Ätherforschung mögen einige Gedanken diesen Beitrag beschließen. Die Entwicklung der abendländischen Kultur hat im 20. Jahrhundert deutliche Indizien dafür geliefert, dass der Höhepunkt einer naiven Identifizierung des Menschen mit seinem Leib bereits vorüber ist. Dies zeigt sich insbesondere in der Kunst, aber auch in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen an dem Grundphänomen, sich in einem Leib zu fühlen, den man bewohnt, mit dem man sich aber nicht oder nicht mehr in derselben Weise identifizieren kann wie früher. Der Leib wird nicht nur deshalb in der Philosophie vermehrt thematisiert, weil er lange vernachlässigt wurde, sondern weil sich das Verhältnis des Menschen zu seinem Leib in den letzten hundert Jahren spürbar geändert hat. In der Kunst wird der eigene Leib vom traditionellen Artikulations-werkzeug zum Wahrnehmungsbereich, in der plastischen Chirurgie anhand der medizinischen Mittel zum Gestaltungsobjekt. Während Hollywood mit dem Seelen-tausch (body-switch) z. B. zwischen Mutter und Tochter auf den Zeitgeist reagiert, bekundet sich in der Genderdebatte ein gesellschaftlich immer mehr anerkannter Wunsch nach einem Wechsel des vererbungsmäßig erhaltenen Geschlechts, mit dem man sich nicht identifizieren kann.
Betrachtet man diese Phänomene einer mehr und mehr artikulierten Entfremdung als solche einer Lösung des Seelischen vom Leiblichen, wird Rudolf Steiners Diktion vom «unbewussten Schwellenübertritt» der Menschheit im 20. Jahrhundert greifbarer.[11] Parallelisiert man aufgrund dieser Bezeichnung die signifikanten Phänomene mit den konkreten Veränderungen beim Überschreiten der Todesschwelle, so differenziert sich dieser Prozess. Er wird ergänzt durch den Vorgang des «Freiwerdens» des Ätherleibs von seiner vorherigen Funktion, den physischen Leib am Leben zu erhalten, und das damit verbundene innere Aufscheinen dieses Wesensglieds, wie es nach dem Tod in Form einer Lebensrückschau geschieht. Insofern wird man beim Studieren der Entfremdung zwischen Seele und Leib auf ein parallel verlaufendes Aufkommen neuer Wahrnehmungen, hier des eigenen Ätherleibs, gewiesen.
Man muss aus dieser Perspektive damit rechnen – und damit umgehen lernen –, dass auf der einen Seite eine zentrale Aufgabe der Pädagogik darin besteht, einen gesunden und das heißt ausgewogenen Inkarnationsprozess zu unterstützen, in dem der eigene Leib und seine Sinnesorgane so ergriffen und durchdrungen werden, dass sich das Seelisch-Geistige in der physischen Welt ungehindert frei entfalten kann. Auf der anderen Seite und damit verbunden sind die Phänomene einer zunehmenden Sensibilität der jungen, aber auch älterer Menschen für genuin ätherische Erscheinungen. Mit dem gelockerten Verhältnis zwischen Seelenleib und Lebensleib – oder einer noch nicht vollständig vollzogenen Inkarnation – geht eine zunehmende «Spürigkeit» für ätherische Phänomene und Prozesse einher, die Rudolf Steiner keineswegs allein im Sinne einer pathologischen Entwicklung gedeutet hat, sondern unter anderem mit einer zunehmenden Möglichkeit der Wahrnehmung des neu im Ätherischen erfahrbaren Christuswesens in Verbindung brachte.
Es geht aus dieser Perspektive nicht um die bloße Tatsache des Erspürens ätherischer Qualitäten und Prozesse, denn dies wird sich vermutlich im Laufe der weiteren Entwicklung auch ohne besonderen persönlichen Einsatz ohnehin verstärken. Es geht um die Frage, wie sich dieser Prozess konkret vollzieht, wie man sich Verständnis für ihn erwirbt und wie man sich innerhalb dieser menschheitlichen Entwicklung angemessen – und das heißt im Sinne des Freiheitsprinzips – verhalten kann. Konkrete Anhaltspunkte hierfür können etwa Steiners Ausführungen über vergangene Zeiten liefern, in denen sich der Ätherleib der Menschen immer stärker mit dem physischen Leib verbunden hat, also der vergangene, spiegelbildliche Prozess. Hier ist auffällig, dass Steiner die Entwicklung des gegenständlich orientierten, rationalen Denkens des Menschen mit der zunehmenden Kongruität von physischem und Äthergehirn parallelisiert.[12]
Das würde bedeuten, dass eine zunehmende Lösung der naturgegebenen Beziehung zwischen den menschlichen Wesensgliedern – analog zum Vorgang beim Überschreiten der Todesschwelle – zur Folge haben könnte, dass das evolutionär erworbene, für die Entwicklung der menschlichen Freiheit so kostbare rationale Denken nicht mehr ohne weiteres auf leibgestützte Prozesse zurückgreifen kann, sondern aus individueller Motivation heraus aktiv gepflegt werden muss. Trifft diese Hypothese zu, hat das Folgen für den Konsens über den Status derjenigen seelischen Übungen, die Steiner mit der Entwicklung geistiger Fähigkeiten im Kontext eines Schulungswegs in Verbindung gebracht hat. Sie werden zu Übungen, die sich im Laufe der genannten menschheitlichen Entwicklungen als notwendig erweisen, um geistig frei überleben zu können. Anders formuliert: um die im Laufe der Neuzeit erworbene Freiheit auf der Grundlage eines aktiven und reflektierten Denkens bewahren und weiter entwickeln zu können.
Nimmt man Steiners Definition des Schulungswegs als ein der normalen Menschheitsentwicklung geistiges Vorauseilen ernst, verliert der anthroposophische Schulungsweg gänzlich den Charakter eines «nice to have» (oder «nice to be») zu-gunsten einer Umdeutung im Sinne geistiger Selbsterhaltung. Die gesellschaftlich parallel verlaufende Gegenbewegung zur Entwicklung des Geistselbsts durch eine Bewusstseinsseele, die sich aus eigenem Antrieb im aktiven Denken der Entfaltung von Wahrheit im eigenen Innern widmen will, ist der allseits spürbare, medial nicht etwa verursachte, sondern nur geförderte Verlust naturgegebener Instinkte für das Wahre. Er artikuliert sich unter anderem in der Priorität von Worten gegenüber Tatsachen und in einem flächenmäßigen Siegeszug der Phrase, der auch vor der anthroposophischen Bewegung nicht von selbst Halt macht. Das anhaltende Hinterfragen der Bezeichnungen und Begriffe, mit denen die Wirklichkeit erschlossen und strukturiert wird, das fortwährende Bedürfnis nach Befreiung aus der trügerischen Sicherheit gewohnter Gedanken und Formulierungen, in eins mit der Befreiung derjenigen Elementarwesen und elementarischen Kräfte, die mit der Betätigung des menschlichen Denkens verbunden sind, ist aus dieser Sicht keine bloße Propädeutik oder Spezialdisziplin wissenschaftlicher Forschung, sondern eine allgemein menschliche raison d’être, die aus der Zukunft her auf uns zukommt.
[11] Vgl. dazu Rudolf Steiners Vortrag vom 1. 2.1921 in Basel, in: Das Innere der Natur und das Wesen der Menschenseele. (GA 80b), S. 178–214.
[12] Vgl. dazu die entsprechende Passage im Vortrag vom 19.11.1907 in Basel; in: Menschheitsentwicklung und Christus-Erkenntnis. (GA 100), S. 234.