MIT RUDOLF STEINER AN DER HAND
Im Herzraum | Durch das noch dumpfe Empfinden des Geistigen in der eigenen Seele, wie auch in den Seelen anderer Menschen, hat in meiner Gymnasialzeit die Suche nach dem Verstehen dieses Geistigen angefangen. Ich finde, dass viele Seelen heutzutage danach suchen.

Es ist ein Geschenk des Schicksals, wenn man auf dieser Suche Rudolf Steiner begegnet. Ich wusste sofort, dass dies der richtige esoterische Weg für mich sein und bleiben wird, weil mit diesem Impuls mein eigenes inneres Anliegen und meine mitgebrachten Fähigkeiten eine weitere Entwicklung, Realisierung und Auswirkung in der Welt durchlaufen können. Auf diesem Weg kann man aber nicht nicht nur immer klarer eine höhere Evidenz des geistigen Wirkens in der eigenen Seele erleben, sondern durch viele Lebensherausforderungen und auch Hindernisse sogar ein tiefes Vertrauen, dass jeder von uns mithilfe der geistigen Führung im Leben geleitet wird und dass alles, was wir durchmachen, einen Sinn für unser Leben hat. Das bringt Frieden ins Herz. So banal es klingt, ich denke, man muss Rudolf Steiner tief im Herzen finden, wenn man dem Impuls der Anthroposophie sein Leben widmen will.
Die Menschen in meinem Schicksal
Rudolf Steiner tragen wir in unserem Schicksal. Aber er lebt nicht mehr physisch unter uns. Ich habe ihn in für mich sehr wichtigen Begegnungen mit Menschen gefunden, die dann meinen Weg geprägt und mitgestaltet haben. Wir finden ihn auch in seinen Texten als eine Quelle der Inspiration. Aber im Anfang konnte ich kein Deutsch, seine Texte kamen für mich erst viel später in Betracht. Damals konnte ich ihn zuerst nur durch den goetheanistischen Impuls begreifen, und ich finde noch heute, dass der Goetheanismus die beste Eingangstür zur Anthroposophie ist. Er stellt eine universelle Forschungsmethode dar, die nach Antworten zu Fragen des Lebendigen, aber auch des Seelisch-Geistigen in der Natur sucht. Er bringt den Menschen in die Gegenwart, in das Mysterium des Willens, denn über den Goetheanismus kann man zwar auch theoretisieren, aber man kann ihn nicht verwirklichen, wenn man ihn nicht «tut». Im goetheanistischen Üben an den Naturphänomenen verbindet man sich im Willen, Erleben und Denken unmittelbar mit der Welt.
Lauschende Wahrnehmung der Sinneswelt
Das Geistige im Selbst spüren viele Menschen heutzutage, aber durch den Zeitgeist, der uns bestimmt, können nur sehr wenige einen zeitgemäßen, forschenden Zugang zum Geistigen in der Sinneswelt finden. Als ich noch in Slowenien Pharmazie studierte, bin ich in eine innere Krise geraten, denn durch die immer weitergehende Intellektualisierung fühlte ich die Welt nicht mehr. Der Begriff der Liebe war wie ausgetrocknet und leer für mich. Aber für jeden jungen Menschen hat das Leben ohne wahre Liebe keinen Sinn mehr. Außerdem ist es heutzutage noch schwieriger zu entdecken, was die wahre Liebe bedeutet. Wir wachsen auf der einen Seite in einer Welt der Emotionen auf und denken, dass unsere niedrigen Triebe zur wahren Liebe führen, und auf der anderen Seite in einer Welt des Intellektes, die voll von Abstraktionen ist. Es wurde mir damals zum Beispiel plötzlich bewusst, dass ich alle chemischen Formeln der Gerbstoffe einer Eiche aufschreiben kann, aber ich hatte überhaupt kein Bild von der Eiche mehr und konnte mich nicht mehr erinnern, wie der Baum aussieht. Es war einer der glücklichsten Momente in meinem Leben und eine riesige Befreiung, als ich die Sinneswelt wieder neu entdeckt habe. Ich konnte immer besser verstehen und erleben, dass der Goetheanismus den Schulungsweg darstellt, auf dem man durch die Sinneswelt stufenweise in deren geistige Gründe eindringen kann. Die Sinneswelt als ein Niederschlag des Geistigen erlangte für mich zentrale Bedeutung im Leben. Endlich konnte ich beginnen, mein naturwissenschaftliches Anliegen und Streben und damit auch meine mitgebrachten Fähigkeiten auf eine sinnvolle Art und Weise zu verwirklichen.
Der Familienhof, welchen meine Eltern besaßen und mit dem ich mich frü her gar nicht verbinden konnte, war auf einmal der Ort, wo ich meinen Lebensimpuls aufbauen und in einer sozialen Gemeinschaft teilen konnte. Der Verein für naturwissenschaftliche Weiterbildung «Sapientia» in Slowenien wurde gegründet und mit vollem Enthusiasmus getragen, zusammen mit der Sektion für anthroposophische Medizin und Pharmazie in Slowenien. Den Hof habe ich übernommen und für Demeter zertifiziert. Ich habe sogar die staatliche landwirtschaftliche Ausbildung gemacht und unter anderem mit dem Anbau von Heilpflanzen am Hof begonnen. Biologisch-dynamische Prä parate werden mithilfe vieler Menschen am Hof hergestellt. Anthroposophie lebt mit Freude, Humor, Leben und Begeisterung bei jeder Veranstaltung, jedem Vortrag oder Workshop. Noch heute trage und unterstütze ich viele Initiativen in meinem Land. Es hat sich erwiesen, dass die goetheanistische Methode viele grundlegende Fähigkeiten fördert, die in jedem Berufsfeld als Basis gebraucht werden, in der Landwirtschaft und Medizin wie auch in der Kunst, in den sozialen Verhältnissen und in der Pädagogik. Sie verlebendigt das Denken und kann es zu Weltimaginationen erheben.
Die Liebe zur Welt und zum Menschen als solchem ist für mich der höchste Ausdruck der reinen Liebe geworden. Rudolf Steiner beschreibt im 1. und 2. Vortrag des Zyklus Die Welt der Sinne und die Welt des Geistes (GA 134) das Staunen über die Sinneswelt als erste Stufe der wahren Erkenntnis, wie man dann durch die tiefe Verehrung der Sinneswelt zur zweiten Stufe kommt und wie man auf der dritten Stufe eins mit der Wirklichkeit werden kann. Diese führt dann weiter in die vierte Stufe der Ergebenheit als Grundstimmung und in das allmähliche Erleben des differenzierten kosmischen Willens und der kosmischen Weisheit bis in die ätherischen Kräfte der Natur – durch den Ätherleib des Menschen. Ich erinnere mich, wie ich durch meine goetheanistische Annäherung an die Pflanzenwelt vor allem einen erneuten und bewussten Zugang zu anderen Menschen und zum Leben selbst aufbauen und mich mit der Sphäre der «Wirklichkeit» verbinden konnte. Die Liebe zur Pflanzenwelt entwickelte sich in meinem ursprünglichen Beruf als Pharmazeutin weiter. Anhand des erweiterten Studiums der Pflanzen, auch mithilfe der Steigbildmethode, und mit dem Einblick in ihre Entwicklung im Jahreslauf versuchte ich, die Gestensprache der betrachteten Pflanzen allmählich zu lernen. In Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen konnte ich auf eine klare und nachvollziehbare Art und Weise neue Inspirationen für pharmazeutische Entwicklungen gewinnen. Das ist noch heute mein tiefes Anliegen. Es ist eine Gnade, den eigenen Beruf so zu verwirklichen, dass das Geistige in der Natur und im Menschen dabei nicht verleugnet werden muss. Die Anthroposophie bleibt in meinen Augen nur durch den Goetheanismus, durch die besondere Erkenntnismethode, die Rudolf Steiner in den Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung mit besonderer Rücksicht auf Schiller (GA 2) beschrieben hat, lebendig und entwicklungsfähig, zeitgemäß und zukünftig, allgemeinmenschlich und jedem zugänglich.
Noch heute, wenn wir in den Seminaren Pflanzen gemeinsam methodisch betrachten oder wenn es mir gelingt, eine Pflanze oder Landschaft so darzustellen, dass es zur Wesensbegegnung und zu ganzheitlichem Begreifen kommt, spürt man, wie eine Art Unterstützung unserer verstorbenen Lehrer Steiner und Goethe im Hintergrund hinzutritt. So wie das Rudolf Steiner im 6. Vortrag des Zyklus Der Goetheanismus – ein Umwandlungsimpuls und Auferstehungsgedanke geäußert hat: «Goethe muß als ein Lebendiger unter uns leben und weiter gefühlt und weiter gedacht werden. Das wichtigste im Goetheanismus steht nicht bei Goethe, weil Goethe innerhalb seiner Zeit nicht in der Lage war, es aus dem Geistigen in seine Seele hereinzubringen, weil überall nur die Ansätze dazu da sind. Goethe fordert von uns, daß wir mit ihm arbeiten, mit ihm denken, mit ihm fühlen, daß wir seine Aufgabe, so wie wenn er überall hinter uns stünde und uns auf die Schulter klopfte und Rat erteilte, weiterführen».[1]
Als ich die Aufgabe der Ko-Leitung der Naturwissenschaftlichen Sektion am Goetheanum übernommen habe, wollte ich eigentlich nur, dass dieses Finden von Rudolf Steiner und Goethe im Leben möglichst viele Menschen weltweit erfahren können und dass wir zusammen einen Beitrag aus dieser Quelle auf vielfältige und möglichst kreative Art und Weise für die bedrohte Erde und die Menschen leisten können.
Unermüdliche Arbeit auf dem Berufsfeld
Mit Rudolf Steiner können wir uns in Begegnung mit dem Leben und seinen fortwährend neuen Herausforderungen auf eine schöpferische Art immer weiter aufbauen. Mit Rudolf Steiner wachsen wir ständig, wenn wir treu dem Üben, Lernen und Forschen bleiben, wenn wir uns selbst immer weiter erziehen. Damit bekommen wir aber immer zusätzliche Aufgaben und übernehmen immer mehr Verantwortung. Wir leben in sehr kritischen Zeiten. Die Zukunft ist auf vielen Feldern bedroht, und ich habe immer das Gefühl, dass ich nur mit Rudolf Steiner an der Hand in diesen hohen Wellen der Zeitherausforderungen nicht ertrinke, was aber viele Menschen in dieser Auseinandersetzung tragischerweise seelisch erleiden müssen. Mit Mut und Zuversicht kann man mit Rudolf Steiner der Zukunft entgegengehen. Rudolf Steiner sagte schon damals seinen Mitarbeitenden, dass wir nie unseren Enthusiasmus für die Arbeit verlieren sollten, dass wir unermüdlich weiterarbeiten sollten. Wenn man aus eigener Freiheit die Verantwortung Stück für Stück für den Bereich, für welchen man befähigt ist, mit viel Bescheidenheit, Geduld und Durchhaltekraft übernimmt und aus der Erkenntnis heraus handelt, lebt man in seiner Lebensaufgabe, seinen Lebenszweck erfüllend. Rudolf Steiner begegnen wir auf diese Weise nur so, dass wir in unserer Arbeit der Weltlage begegnen, den Zeitfragen entgegenkommen und durch unsere Arbeit die Welt auch beeinflussen.
Vesna Forštnericˇ Lesjak ist anthroposophische Pharmazeutin, biologisch-dynamische Landwirtin und Referentin. Ab 2023 hat sie die Ko-Leitung der Naturwissenschaftlichen Sektion am Goetheanum inne. Sie forscht zur goetheanistischen Heilpflanzen-Erkenntnis für Pharmazie und im Bereich der Steigbildmethode. 2013 gründete sie die Herstellungsfirma für Nahrungsergänzungsmittel und Kosmetika, den Vereins für naturwissenschaftliche Weiterbildung «Sapientia» und die Sektion für anthroposophische Pharmazie und Medizin in Slowenien. 2019 übernahm sie den ökologischen Familienbauernhof mit Demeter-Zertifizierung.
[1] Rudolf Steiner: Der Goetheanismus – ein Umwandlungsimpuls und Auferstehungsgedanke,
GA 188, 12.1.1919, Dornach 1982, S. 134 f.